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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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lohnte sich, Minna den liebenden Ehemann vorzuspielen. Zugegeben, an unguten Tagen trieb ihm diese Strapaze Tränen in die Augen, die er jedoch vor Minna nicht zu verbergen brauchte. Im Gegenteil. Für sie spiegelten seine Tränen Ergriffenheit, Rührung, Zuneigung, und sie ließen ihr das Herz aufgehen wie eine Butterblumenblüte.
    In den vergangenen Jahren hatte sich Wollis Erzeuger oft gefragt, ob Minna wirklich so dämlich sein konnte, tagein, tagaus auf seine Schmierenkomödie hereinzufallen. Deshalb war er eine Zeit lang vorsichtig zu Werke gegangen. Sorgfältig hatte er Minnas Stimmungen sondiert, auf ihren Tonfall gehorcht, ihre Miene studiert. Doch nie hatte er ein einziges Anzeichen dafür entdecken können, dass Minna ihm auf die Schliche gekommen war. Da wurde er dreister. Bald leistete sich Wollis Erzeuger Extravaganzen, wie sie der Lusen noch nicht gesehen hatte.
    Unermüdlich als Schriftführer im Dienste des VdK-Ortsverbandes (ein ehrenvoller Posten, den ihm Minna durch penetrantes Bequatschen des Vorsitzenden verschafft hatte), hatte er sich im Laufe der Jahre unter die Röcke sämtlicher Weiber seines Bezirks gearbeitet. Ob verwitwet oder verheiratet, ob alt oder jung, ob hübsch oder schiech, er nahm sie alle. Jede kriegte er herum, spätestens dann, wenn er sich die Tränen in die Augen steigen ließ.
    Er ging stets nach dem gleichen System vor. Er betrat das Haus, in das sein Amt ihn führte, und fand den Weg in die gute Stube. Dort hockte er sich in den Herrgottswinkel und füllte den Rentenantrag, den Änderungsbescheid oder sonstige Formulare aus, die da auf ihn warteten. Anschließend verzehrte er den Schmalzkrapfen und trank den Kaffee, aß das Schnitz vom Schwarzgeräucherten und kippte den Schnaps, je nachdem, was ihm angeboten wurde. Dabei begann er Süßholz zu raspeln, bis die Hausherrin dahinschmolz. Pro Woche kam Wollis Erzeuger im Durchschnitt auf ein halbes Dutzend Schäferstündchen.
    Außerdienstlich hielt er sich ein ganz spezielles Gspusi in Ringelai. Mehr als zwei Wegstunden waren es bis zu dem abgelegenen Weiler zu laufen, aber die Mühe lohnte sich jedes Mal. Unter der Südflanke des Lusen, gleich hinter dem Karbidwerk, wohnte nämlich ein Weibsstück, das sich von Wollis Erzeuger mit dem Hosengürtel traktieren ließ. Sie wehrte sich nicht, wenn er ihr mit der scharfen Klinge seines Federmessers Symbole und Ornamente in die Haut ritzte, und sie fand sich mit den Bisswunden ab, die sich nach seinen Besuchen wie ein Häkelmuster um ihr Dekolleté reihten.
    Das erregende Spiel mit diesem Weib gönnte sich Wollis Erzeuger vor allem dann, wenn ihm beim bloßen Gedanken an Minnas schwabbelige Umarmung der Weg von St. Oswald nach Waldhäuser hinauf wieder einmal viel zu steil erschien.
    »Wer ein schwaches Herz hat«, erklärte er Minna, »sollte lieber den gemütlichen Umweg über Ringelai nehmen.«
    Er nahm ihn immer öfter, vor allem an den Tagen, an denen er von Minna den verhassten Satz zu hören bekommen hatte: »Morgen musst dem Vatern im Holz helfen.«
    Wollis Erzeuger verabscheute Minnas Vater, dieses vermaledeite Lusenfossil. Seit zehn Jahren, seit jener Stunde, in der er sich auf dem Guglerhof eingenistet hatte, hoffte er jede Sekunde, dass sich das Fossil hinlegen würde, um abzukratzen.
    Schon 1945 war ihm Minnas Vater älter erschienen als die verhutzelten und verknorzten Fichten an den steilen Lusenhängen.
    Das kann ja wohl nicht mehr lang dauern, hatte er sich damals gesagt, bis der Waldschrat seinen Löffel abgibt.
    Aber jetzt, zehn Jahre später, lebte das Fossil immer noch, wohnte mit Minna und ihm im gleichen Haus, still präsent wie die Reliquien des heiligen Oswald und ebenso irritierend.
    Seit jenem Tag, als Wollis Erzeuger am Guglerhof einen rupfenen Sack voll Stroh stopfte, um weich und warm darauf zu schlafen; als er sich an den Vorräten für den Winter satt fraß und dabei den Alten musterte, war er allmählich zu dem Schluss gekommen, dass dem Fossil wesentliche Attribute des Menschseins fehlten.
    Als Erstes hatte Wollis Erzeuger festgestellt, wie sehr es bei Minnas Vater mit dem sprachlichen Ausdruck haperte. Seine Wortfindung schien sich auf »sä«, »hä« und »gä« zu beschränken.
    Etwas später wurde ihm klar, dass sich aus der Miene des Fossils kaum mehr herauslesen ließ als aus der eines Grottenolms.
    Und schließlich, nach Monaten, fand er das bemerkenswerteste Manko, das ihn letztlich davon überzeugte, Minnas Vater müsse ein Fall für

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