Der kleine Fluechtling
die Zoologen sein: Das Fossil war nicht imstande zu lachen.
»Bedauerlich«, pflegte Wollis Erzeuger beim jährlichen Treffen des Bataillons 101 im Jägerhaus am Tegernsee zu HSSPF Benz und den paar noch lebenden Gefährten zu sagen. »Wirklich bedauerlich, dass man seinerzeit die wohltätige Aktion zur Ausrottung minderwertiger Rassen vorzeitig abbrechen musste.«
Die Kameraden beeilten sich dann betrübt zu nicken und ihm vehement zu bestätigen, dass durch diesen Rückzieher großer Schaden angerichtet worden sei.
»Immenser Schaden«, ließ es sich Wollis Erzeuger daraufhin nicht nehmen zu bekräftigen, »kaum zu verkraften.« Eines Tages fügte er hinzu: »Das abrupte Anhalten der heilsamen Säuberungswellen rettete beispielsweise einem Fossil das Leben, das sich nun herausnehmen kann, hochverdiente Personen nach seiner Pfeife tanzen zu lassen.«
»Ein Skandal«, bekam er zur Antwort.
Weiß Gott, Herbst für Herbst konnte es Wollis Erzeuger schwerer verkraften, dass er dem Alten bis hinauf in die unzugänglichsten Gehölze folgen musste, um dort Holz zu machen. Er sah sich von Minnas Vater dazu gezwungen, an steilen Lusenhängen spröde Stämme zu fällen, ihnen die Äste abzuhacken, sie in Stücke zu sägen und das Reisig zu bündeln.
»Wir brauchen halt Brennholz für den Winter«, säuselte Minna in aller Herrgottsfrühe an jenen Tagen, die dem Holzeinschlag vorbehalten waren. Dann packte sie ihrem Mann Hasenöhrl aus Mürbteig als Wegzehrung ein. »Die magst du doch so gern.«
Wollis Erzeuger schaute jedes Mal weg, wenn er den Brotbeutel entgegennahm, sonst hätte er seine Frau ins Gesicht schlagen müssen. Und mit Mordgelüsten in der Brust folgte er dem Fossil.
Das Ächzen und Stöhnen der Baumstämme ängstigte Wollis Erzeuger. Er gruselte sich vor dem bedrohlichen Rauschen in den Gipfeln. Vor allem aber fürchtete er das Splittern der Äste, das den Sturz eines gefällten Baumes begleitete und den Aufschlag ankündigte.
Anfangs hatte er sich gefragt, woher zum Teufel das Fossil wissen konnte, wie und wo der gefällte Stamm aufkommen würde. Später hatte er sich dann mit der Antwort begnügt, dass wohl irgendein animalischer Instinkt das Fossil instand setzte, den Fallwinkel auf die Bogenminute genau zu erschnüffeln. Demnach hätte er sich eigentlich bei der Waldarbeit mit Minnas Vater sicher fühlen können, aber die Hände zitterten ihm bei jedem Laut, und die Achselhöhlen produzierten unaufhörlich Schweiß.
Erst wenn die gefällten Stämme kreuz und quer über ihren eigenen Stümpfen lagen, begann die Angst langsam zu schwinden. Doch gleichzeitig loderte der Hass auf.
Wollis Erzeuger hasste es, tückisch wegschnellende Äste abzuhacken, er hasste es, arglistig kippende Bloche auf Meterstücke zurechtzusägen, und er hasste es, boshaft davonrollende Rundlinge zum Fuhrwerk zu schleifen.
Einmal, im vergangenen Herbst, war Wollis Erzeuger in seiner Wut drauf und dran gewesen, das Fossil zu Brei zu schlagen. Er hatte die Axt bereits gedankenvoll in der Hand gewogen. Aber dann hatte er sich doch nicht getraut, hatte Furcht gehabt, den Kürzeren zu ziehen. Denn obwohl alt wie ein vermoderter Wurzelstrang, war das Fossil wendig, durchtrieben und zäh. Wollis Erzeuger wagte zu bezweifeln, dass er, obwohl jünger und ein gutes Stück größer als der Alte, ihn so einfach überwältigen konnte. Und außerdem: Wohin dann mit der Leiche? An Ort und Stelle verscharren war keine Lösung, weil sie der Hund des Försters noch am selben Tag ausbuddeln würde. Und selbst wenn nicht. Wie sollte Wollis Erzeuger das Verschwinden des Gugler-Bauern erklären?
Er hatte die Axt weggelegt und sich zur Besänftigung ein Schäferstündchen ausgemalt. Ein ganz spezielles Stelldichein in Ringelai.
Wem war also die Schuld dafür anzulasten, dass Wollis Erzeuger das Weibsstück in Ringelai von Mal zu Mal heftiger schlug, wilder biss, tiefer ritzte?
Dem Fossil natürlich. Dem Fossil. Aber nicht nur ihm, sondern auch Minna – und Carmen.
4
An dem Tag, an dem Carmen zum ersten Mal das Wort »Papa« brabbelte (Minna hatte ihr die beiden Silben zuvor eingetrichtert), hatte Wollis Erzeuger mit einem Ritual begonnen, das er all die Jahre über beibehalten hatte.
Pünktlich nach dem Abendbrot pflegte er mit viel Brimborium eine Leckerei aus der Hosentasche zu zaubern – einen Lakritzstängel, ein Tütchen mit Minzkugeln, ein paar Kekse –, Süßigkeiten, die er im Laufe des Tages aus den Stuben seiner Klienten
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