Der kleine Fluechtling
mitgehen ließ.
Carmen scharrte immer schon während des Essens aufgeregt mit ihren Füßchen über den groben Bretterboden der Wohnküche, weil sie es kaum erwarten konnte, sich auf ihren Vater zu stürzen und nach dem Mitbringsel zu grapschen. Sobald die Teller abgeräumt waren, hüpfte sie ungestüm in seinen Schoß. Und dann begann die Balgerei.
Wollis Erzeuger ließ seine Tochter von Mal zu Mal länger zappeln. Auf der Jagd nach der Schleckerei musste sie sich winden und strecken, sich an seinen Hals hängen, quer über seinen Bauch robben. Erst wenn Minna mahnte: »Jetz hör halt wieder mal auf mit derer Tratzerei«, überließ er Carmen die Beute.
Seit einigen Monaten fiel es ihm jedoch Abend für Abend schwerer, mit der Rangelei aufzuhören und seine eigenen grapschenden Finger im Zaum zu halten. Um sich daheim zügeln zu können, musste er nun häufiger den Umweg über Ringelai nehmen. Ahnungslos goss Minna eines Tages Öl ins schwelende Feuer.
»So wie das Madl herwächst«, schwatzte sie, »wird unsere Carmen gwiss dreimal so schön wie die echte, die wo ich gsehn hab, seinerzeit in der Oper in Berlin.«
Wollis Erzeuger nickte mit trockenem Mund, und Minna fuhr schwärmerisch fort: »Ein Gsichtl hats wie gmalt, eine Anmut wie ein Reh, und die roten Haar lassen jeden zweimal auf sie hinschauen. Und – hast es gspürt, was sich schon formt?«
Wollis Erzeuger hatte. Und er wollte Minna nicht wissen lassen, wie sehr. Deshalb versuchte er es mit einem Ablenkungsmanöver.
»Ah«, rief er, »ich hab nie vergessen, wie begeistert du damals aus Berlin ins Lager zurückgekommen bist. 1943 muss das gewesen sein.«
»1942, im Sommer«, berichtigte Minna, »und von da an hab ich gwusst: Sollt ich jemals ein Madl kriegn, dann tauf ich’s Carmen. Aber nie hätt ich mir träumen lassen, dass mein Kind mal eine solche Schönheit wird.«
Es war wahrhaftig verblüffend, erstaunlich und unglaublich, wie sich Minnas vorstehender Unterkiefer mit dem Überbiss ihres Mannes beim gemeinsamen Kind zu einem klassischen Profil vereinigt hatte. Es war beispiellos, wie Minnas Fettwülste und die recht dürren Knochen von Wollis Erzeuger beim gemeinsamen Nachwuchs zu einer wohlproportionierten Figur verschmolzen waren.
Minna hatte vollkommen recht. Carmen wuchs zu einer Schönheit heran. Einer wirklichen Schönheit. Und Wollis Erzeuger fragte sich eines Tages ernsthaft, warum es ausgerechnet ihm versagt bleiben sollte, sie zu vernaschen. Immer öfter ließ er von da an bei der abendlichen Balgerei seine Finger an Orte gleiten, wo sie nicht hingehörten. Aber klammheimlich musste das sein. Minna durfte nichts merken, und das Fossil sollte besser auch nichts mitkriegen.
Nachdem Wollis Erzeuger die Zeitung zusammengefaltet hatte, überlegte er wieder einmal, wie er es nur anstellen könnte, mit Carmen längere Zeit allein zu sein.
Man müsste, schwebte es ihm durch den Sinn, die abendliche Rangelei nach draußen verlegen, müsste sie zu einem Versteckspiel machen.
Just in dieser Woche (es ging stracks auf den Mai zu) hatte die Kälte spürbar nachgelassen. Graspolster fanden sich schon hier und dort. Versteckspielen war ein guter Plan.
Wollis Erzeuger grinste. Heute noch, nahm er sich vor und gierte dem Abend entgegen.
Sie waren mitten im schönsten Herumalbern, und Wollis Erzeuger sagte sich: Jetzt!
Er wollte soeben »Fang mich doch« rufen und machte sich schon bereit, aus der Stube zu rennen, da öffnete das Fossil plötzlich das zahnlose Maul. Von etlichen Grunzern unterbrochen, holperte ein vollständiger Satz heraus.
»Blutige Hennerkröpf, hab da so ein Klachel Tannerbaum droben an der Steinfelsenhäng, den kann ich net umlegen, net ums Verrecken.«
Wollis Erzeuger ließ die Hand vollends aus Carmens Höschen gleiten. Was quatschte der Alte da für einen Bockmist? In dem Waldstück am Steinfelsen hatten sie noch nie Holz gemacht. Und überhaupt, das vermaledeite Bäumefällen stand doch erst im Herbst an, in vier Monaten frühestens. Die Zeit bis dahin sollten die Sägeblätter geölt und in Sackleinen gewickelt gefälligst im Schuppen verbringen.
Bevor er aber eine einzige Frage stellen konnte, meinte Minna: »Is schon lang nimmer vorkommen, dass der Vater einen gsunden Stamm fürs Sägwerk gschnitten hat.« Daraufhin wandte sie sich an das Fossil. »Willst die Tanne fürs neue Stadeldach in Zahlung geben?«
Der Gugler-Bauer nickte.
Da sagte Minna zu ihrem Mann: »Die Sach is wichtig. Gleich morgen in der
Weitere Kostenlose Bücher