Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
Vom Netzwerk:
führen würde, musste er das Todesurteil fällen.
    Die Hinrichtung war also beschlossene Sache, aber sie musste eben wie ein Unglück aussehen – schon allein deshalb, weil dann weitere Zahlungen vom Staat garantiert waren.
    Und alles lief wie geschmiert.
    Die große Tanne hatte Wollis Erzeuger plattgemacht, und der Gugler-Bauer konnte im Grunde sicher sein, dass niemand daran zweifeln würde, es hätte sich um einen Unfall gehandelt. Nicht der kleinste Fehler war ihm unterlaufen.
    Als der Bauer über die Schwelle des Waldhauses hüpfte, schien es, als wäre sein Plan in jeder Hinsicht aufgegangen. Wie hätte er auch ahnen können, dass die Posthalterin just an diesem Vormittag (in einem Anfall von Reinlichkeitswahn) den Fußboden ihrer Flez mit konzentrierter Schmierseifenlauge gewaschen hatte.
    Die schlüpfrig-nassen Fliesen machten die Flez zu einer Schlittschuhbahn.
    Und so kam es, dass Minnas Vater nach seinem übermütigen Sprung in den Hausflur auf seinen genagelten Schuhen etliche Pirouetten drehte, mit Schwung bis zu dem steilen Treppenaufgang aus kantigen Quarzsteinen segelte und dort mit dem Hinterkopf auf die zweitunterste Stufe schlug.
    Die Posthalterin, die aus der Waschküche kam, wo sie Eimer, Schmierseife und Wischmopp verstaut hatte, erschien gerade rechtzeitig zu seinem letzten Atemzug.
    Ein, zwei Stunden nach ihrem ersten Aufschrei begann es im Dorf bereits zu flüstern. Es tuschelte auf der Weide, wisperte über die Äcker; es mauschelte in den Häusern und hörte nicht mehr auf. Tag um Tag, Woche um Woche redeten die Waldhäusler von nichts anderem als von dem Fluch überm Gugler-Hof.
    Weil so ein Fluch imstande war, auch den Hartgesottensten zu vertreiben, verkaufte Minna drei Monate später den gesamten Besitz, raffte ihr Kind und ihre Habe zusammen und zog davon.
    »Rufmord war es, was mich aus dem Elternhaus getrieben hat«, berichtete sie zwischen St. Oswald und Grafenau jedem, der ihr zuhörte. »Statt mich und mein armes Kind zu bedauern, zu trösten und zu stützen, haben die Waldhäusler meinen Vater einen Schlawiner und meinen Mann einen Schweinehund geheißen. Ein Frevel ist so was, wo uns doch so ein großes Unglück getroffen hat. Bei der Holzarbeit hat ihn ein Bloch erschlagen – meinen lieben, guten Mann, und wie der Vater Hilfe holen wollt, hat er sich’s Genick gebrochen.«
    So stellte sich die Sache dar, kein Zweifel. Die Behörden mussten nicht lange nachforschen, um in beiden Todesfällen, dem des Gugler-Bauern und dem seines Schwiegersohnes, zu dem Resultat »Unfalltod« zu gelangen.
    Die Waldhäusler waren allerdings zu einem verfeinerten Ergebnis gelangt.

5
    Das Gros der Alteingewurzelten da oben an den Lusenhängen hatte die Weisheit gewiss nicht mit Löffeln gefressen. Die meisten von ihnen waren weder gebildet noch belesen, manchmal klappte selbst das Schreiben mehr schlecht als recht. Aber sie waren schlau – bauernschlau, wie es so schön heißt.
    Zugegeben, anfangs konnten sie sich nicht recht entscheiden, wen sie mehr verdammen sollten, das Opfer oder den Täter. Mord war schließlich Mord, auch wenn es der Ermordete dreimal verdient hatte, hingerichtet zu werden, denn mit der Zeit kamen immer mehr Schandtaten von Wollis Erzeuger ans Licht.
    Für die Gewitztheit der Waldhäusler sprach, dass sie schnell damit aufhörten, die Schandtaten aufzuzählen, und sich stattdessen auf die Kernfrage konzentrierten: Wie hatte es der Gugler-Bauer geschafft, in Windeseile die enorme Tanne zu fällen und punktgenau auf den Rippen seines Schwiegersohnes zu platzieren? Denn eines war klar: Der Gugler-Bauer hatte vorsätzlich fünf Ster Holz auf dem Brustkasten von Minnas Mann abgeladen. Ein Versehen, ein Missgriff, ein Schnitzer konnte ihm nicht unterlaufen sein. Das war ganz und gar unmöglich, weil nämlich der Gugler-Bauer als der versierteste Holzfäller zwischen Arber und Dreisessel galt.
    Die Waldhäusler redeten einige Zeit hin und her, stellten diese und jene Theorie auf, und eines Abends hatten sie es.
    Die Ausgabe der »Passauer Neuen Presse«, in der die Todesanzeigen für Minnas Ehemann und Minnas Vater erschienen waren, lag seit Tagen auf dem Tresen des Dorfwirtshauses.
    »Gott sprach das große Amen«, hatte Minna unter eine Fotografie von Wollis Erzeuger drucken lassen. »Er holte meinen lieben Mann viel zu früh heim in sein himmlisches Reich.«
    »Das Amen für der Minna den Ihrigen, das hat der alte Gugler gsprochen«, feixten die Waldhäusler am

Weitere Kostenlose Bücher