Der kleine Fluechtling
Haushaltswarenladen seiner Schwester florierte.
Anna hatte das Sortiment erst neulich erweitert. Den Adventsmonat über hatte sie Geschenkartikel im Angebot gehabt (Spielsachen, Püppchen, Kerzenleuchter, Bilderrahmen, Kristallvasen und so weiter) und dabei festgestellt, dass der Verkauf dieser Dinge lief wie am Schnürchen. Da hatte sie beschlossen, das ganze Jahr über solchen Krimskrams anzubieten. Außerdem hatte sie ihren Mann dazu überredet, dem Warensortiment Handwerksartikel hinzuzufügen: Nägel, Schrauben, Sandpapier …
»Wir müssen eine Ladenhilfe einstellen«, verkündete Anna stolz.
Liesl zuckte kurz hoch, sank aber sofort wieder in sich zusammen.
Nein, ihr würde Anna die Stelle auf keinen Fall anbieten.
Das hatte Anna auch nicht vor, und wenn sie geahnt hätte, dass es darauf hinauslaufen könnte, hätte sie bestimmt keine Silbe verlauten lassen.
»Da wär ja die Liesl goldrichtig!«, rief die Mutter begeistert. »Das brauchts doch net, dass sie die ganz Woch in Deggendorf unten in Stellung is, wenn mir bei uns selber einen Arbeitsplatz für sie ham.«
Die gesamte Verwandtschaft stimmte ihr zu.
Anna presste die Lippen aufeinander und hätte sich ohrfeigen mögen, weil sie den Mund nicht gehalten hatte. Sie war in eine selbst gelegte Falle getappt.
Ab Lichtmess stand Liesl hinter dem Tresen in Annas Laden.
»Mei, bin ich froh, dass ich nimmer auf Deggendorf runterradeln brauch, dass ich den Lindner-Bankerten nimmer den Deppen machen muss«, sagte sie zu jedem, der ihr zuhörte.
Anfangs grollte Anna wie eine Gewitterfront. Doch mit der Zeit musste sie widerwillig zugeben, dass sie keine bessere Arbeitskraft hätte finden können als die Liesl. Allerdings konnte sie das nicht so einfach eingestehen, und Liesl gebührend würdigen konnte sie schon gar nicht.
»Schwirrt im Laden rum und macht sich wichtig«, sagte Anna am Faschingsdienstag beim Krapfenessen zu Tina. »›Gertilein, gell, du bedienst eine halbe Stund die Kundschaft, bis ich deiner Mama in der Wohnung oben einen Rocksaum absteckt hab. Schau, ich hab grad ein neuen Karton mit Gummiring und einen mit Stopseln aufgmacht, dass dir nix ausgeht. Tüterln sind auch noch gnug da. Und weißt schon, wenn einer zwanzig Nagerl verlangt, lieber eins mehr draufgeben, dann kommen die Leut auch wieder‹«, äffte sie Liesls Stimme nach.
In Wahrheit imponierte es Anna enorm, wie Liesl es fertigbrachte, dass die Kunden vom Einkaufen bei Langmoser nicht nur mit dem benötigten Besen oder Staubwedel nach Hause kamen, sondern auch mit Eimer, Schubber und Sidol, oder dass sie zum Kochlöffel noch einen Suppentopf erstanden oder zum Brotmesser ein Schneidebrett.
Auch Gerda schien von Liesls Verkaufsstrategie geradezu fasziniert, denn Anna beobachtete eines Tages, was ihre Tochter vor dem Spiegel probte.
Gerda hatte ein erwartungsvolles Lächeln aufgesetzt und erweckte tatsächlich den Eindruck, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt als den unsichtbaren Kunden ihr gegenüber. »Bittschön, was darf’s denn sein?«, fragte sie zuvorkommend und mit treuherzigem Augenaufschlag. Dann tat sie so, als würde sie Ware auf dem Ladentisch auslegen, und fuhr fort: »Unsere neuen Salatschüsseln aus Plastik lassen sich kein bisserl mehr von einer aus Porzellan unterscheiden, und sie haben den einmaligen Vorteil, dass sie nicht zerbrechen – nicht mal wenns auf einen Steinboden aufschlagen.«
Gerda probierte noch dies und das, lächelte ermunternd, lächelte dankbar, knickste und sagte: »Geht vielleicht sonst noch was ab?«
Anna war beeindruckt, wie perfekt Gerda in die Verkäuferrolle schlüpfte. Sie honorierte ihr Bemühen, indem sie ihr an sonnigen Nachmittagen, an denen wenig Kunden zu erwarten waren, den Laden für ein, zwei Stunden allein überließ und Liesl wegschickte, um das Lager aufzuräumen oder gelieferte Ware auszupacken. Anna selbst saß während solcher Flauten über der Buchhaltung oder ging mit ihrem Mann die Bestelllisten durch.
Gerda weinte ihrem verpassten Bildungsweg keine Träne nach. Wer wollte schon den Tresen in der Villa Katherina gegen ein Schülerpult bei den Nonnen eintauschen? Wer wollte, statt hübsch zurechtgemacht Botengänge zu Burgels Geschäft zu erledigen, im tristen Nonnenkloster Altartücher besticken?
Aber so eifrig Gerda auch losmarschierte, wenn ihre Mutter sie zu Burgels Laden schickte, so wenig beachtete sie nach wie vor den Keisling-Erben, der seltsamerweise immer dann mit Burgel Abrechnungen
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