Der kleine Fluechtling
konnten die Langmosers in die Villa umziehen.
Gerda bekam das Zimmer mit dem Erkerfenster, und darin stand nun jener dreiteilige Spiegel.
3
»Laufst zur Burgel runter, holst vier Brathering fürs Nachtessen und bringst ihr gleich die Pfann mit, wo sie bstellt hat«, hörte Gerda ihre Mutter rufen.
Also griff sie sich ihren abgetragenen Anorak und eilte in den Laden hinunter.
Die Mutter wollte ihr eben eine in Wellpappe eingeschlagene Bratpfanne reichen, da fiel ihr Blick auf den Anorak. »Ziehst net gleich das alte Trumm aus. Hab ich dir nicht extra den Bisampelz an den Saum vom Mantel von vorigs Jahr gnäht, damit die Läng passt? Sogar die Liesl hat zugeben müssen, dass du damit ausschaust wie die Piroschka im Kinofilm. Und kämm dir die Haar.«
Gerda tat, wie ihr geheißen.
Als sie wenige Minuten später bei Burgels Geschäft ankam, parkte ein Lieferwagen der Brauerei Keisling vor der Tür.
Gerda betrat den Laden und sah Burgel neben einem jungen Mann am Tresen stehen, der Zahlen in ein Heft eintrug.
Burgel nickte ihr zu. »Bin gleich so weit.«
Während Gerda wartete, bis Burgel Zeit für sie haben würde, betrachtete sie die Süßigkeiten, die Burgels Geschäft anzubieten hatte. Schokolade von Sarotti, Waffelbruch, Lakritzstangen – Gerda schluckte –, Butterkekse, Malzbonbons … Ihr Blick tastete das attraktive Angebot mehrmals ab, verschwendete jedoch keine Sekunde an den jungen Mann, der mit Burgel am Tresen stand.
Es wäre allerdings falsch, daraus zu folgern, dass sie sich für das andere Geschlecht grundsätzlich nicht interessierte. Nur der, für den Gerda schwärmte, würde in Neuhausen nicht anzutreffen sein. Zu hören war er jedoch täglich im Radio. Sein Name war Peter Kraus.
Die Ladenklingel, die anzeigte, dass der junge Mann soeben das Feld räumte, riss Gerda von den Dropsrollen weg. Sie hätte sich wirklich gern eine gekauft, hatte aber das Fünferl, das ihr die Mutter jeden Morgen gab, bereits am Vormittag in der Pausenhalle für eine Hefeschnecke ausgegeben.
Gerda war nach dem Unzug von Deggendorf nach Neuhausen in die sechste Klasse der dortigen Volksschule eingetreten, deren Unterrichtsräume praktischerweise keine fünfzig Meter von der Villa Katherina entfernt lagen. Sie hatte bisher noch keinen Moment lang bedauert, dass ihr der Ortswechsel die Möglichkeit genommen hatte, in die Deggendorfer Mittelschule überzuwechseln. Gerda auf eine weiterführende Schule zu schicken war ohnehin einzig und allein Tante Tinas Idee gewesen.
Tina hatte eines Tages verkündet, dass sich Gerdas Chancen mit einer höheren Schulbildung vervielfachen ließen. Sicherlich dachte sie dabei an Berufschancen. Anna hatte ihr zugestimmt, wohl aber Gerdas Heiratsaussichten im Auge gehabt und gehofft, dass sich das Fehlen der klassischen Maße neunzig-sechzig-neunzig mit Kenntnissen in Buchführung aufwiegen ließ.
»Ich geb ja zu«, hatte Tina zu Gerda gesagt, »Mittelschule in Deggendorf, das bedeutet Nonnen in allen Fächern, Morgenandacht und Mittagsgebet und statt Armreifen Rosenkranzperlen ums Handgelenk. Aber was sind schon drei Jahre für einen anständigen Schulabschluss? Und wenn du die freien Nachmittage, die Wochenenden und die Ferien abziehst, bleibt gar nicht viel Schulzeit übrig. Die mittlere Reife, glaub mir, die is sogar ein paar Frühmessen wert.«
Gerda hatte das eingesehen. Die Nonnen würde sie schon verkraften.
Aber dann war es ja anders gekommen.
»Das mit der Mittelschul wird halt nichts werden«, hatte Anna Langmoser zu ihrer Tochter gesagt, »wenn mir von Deggendorf wegziehn. Du kannst die Streck ja nicht Sommer wie Winter mit dem Radl fahren.«
Gerda hatte bloß genickt. Fehlen würden ihr die Nonnen ganz gewiss nicht.
Anna hatte geseufzt. »Musst halt in die Neuhausener Volksschul gehn, wie die Renate. Wennst dann die Schulzeit rumhast, wern mir schon eine Lehrstell für dich finden, sind ja noch fast drei Jahr hin.«
Für Renate lief bereits das letzte Schuljahr, und Gerda war neugierig, wo ihre Cousine eine Lehrstelle antreten würde.
Als sie aus Burgels Laden trat, sah sie, dass Renate am Kotflügel des Keisling-Lieferwagens lehnte.
4
»Wirklich gut hat uns der Willi graten, wie er uns vergangenes Jahr die Villa Katherina ans Herz glegt hat«, gab Anna am Neujahrstag 1958 vor versammelter Verwandtschaft zu.
Vater und Mutter nickten fröhlich. Willi lachte übers ganze Gesicht. Max gratulierte, denn bis zum Bogenberg hatte sich bereits herumgesprochen, wie der
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