Der kleine Fluechtling
mächtige Trümpfe in die Hand gegeben, die er vorsichtig und planvoll ausspielte und ansonsten eisern hütete.
Als Gerda beim Gurkenfeld ankam, tuckerte der Traktor bereits durch die zweite Schneise. Die Tragflächen waren voll besetzt. Etliche Saisonarbeiter und die halbe Verwandtschaft lagen eng nebeneinander bäuchlings auf den Flügeln und pflückten Gurken. Es bot sich ein ganz anderes Bild als das, welches Gerda aus ihrer Zeit am Himmelberghof kannte. Bisher hatte das Gurkenfeld während der Ernte von Weitem immer ausgesehen wie ein Teller voll Spinat, in dem Käfer herumkrabbelten. Und in den vergangenen Sommern hatte sich Gerda oft selbst mitten im Gekrabbel befunden, war extra mit dem Fahrrad aus Deggendorf hergekommen, um beim Gurkenpflücken zu helfen.
Gerda ließ den Kopf hängen. Schade, sie war zu spät dran. Wirklich schade. Aber leider nicht mehr zu ändern.
Sie beschloss, trotzdem zu warten, bis der Traktor vom anderen Ende des Feldes zurückkehrte. Wenn sie schon nicht mitmachen konnte, wollte sie wenigstens aus der Nähe sehen, wie die Sache funktionierte.
Sie beschirmte die Augen mit der flachen Hand und blickte dem Traktor nach. Er fuhr viel langsamer als Schritttempo, was bedeutete, dass gut eine halbe Stunde vergehen würde, bis er wieder näher kam.
Schön, dann würde sie sich die Zeit eben mit Gurkenmessen vertreiben.
Gerda angelte eines der Maßstöckchen aus der Kiste, die Willi am diesseitigen Feldrand abgeladen hatte, und nahm es fachmännisch in die Hand. Gebückt eilte sie von Pflanze zu Pflanze und legte das Normmaß an jedes Gürkchen an. Von fünfzig fand sie nur ein Einziges, das die vorgeschriebene Länge bereits überschritten hatte.
Genau der richtige Zeitpunkt für die erste Ernte, nickte Gerda sachverständig.
Der Traktor tuckerte inzwischen langsam auf sie zu. Sie konnte Liesl auf der Tragfläche erkennen, neben ihr Renate und neben Renate – ganz außen am Rand des Flügels – Wolli. Er hatte seine Finger in Renates linke Pobacke gekrallt.
Is es so rutschig da oben?, dachte Gerda. Kann man da vielleicht runterfallen? Aus welchem anderen Grund sollte sich Wolli wohl sonst so an Renate festklammern? Gerda ließ den Blick über die Tragflächen schweifen und registrierte, dass sich sonst niemand festhalten musste. Alle pflückten mit beiden Händen.
Der Traktor kam ein paar Schritte vor Gerda zum Stehen. Wolli sprang ab. Gerda hörte ihn das Wort »Zapfenstreich« rufen und sah ihre Chance. Sie lief hin, um Wollis Platz einzunehmen.
»Da hab ich aber Glück ghabt«, rief sie.
Renate hielt ihr die Hand entgegen, um ihr auf die Tragfläche zu helfen. Ihre Wangen glänzten tiefrot.
Der Traktor ruckte an.
Gerda hatte sich bäuchlings ausgestreckt und fand, dass es sich hier oben eigentlich recht bequem lag. Ungefähr zwanzig Zentimeter vor dem Flügel hatte Willi eine Art Geländer angebracht. Gerda tat es den anderen nach und ließ ihr Kinn darauf ruhen. Unterhalb des Geländers verlief die Rinne, die das Erntegut aufnahm und zum Auffangbehälter beförderte. Man brauchte nur die Arme zu senken, zu pflücken und die Gürkchen in die Rinne fallen zu lassen.
Die Position, in der sie sich befand, schien Gerda stabil und sicher. Warum bloß hatte sich Wolli so heftig an Renate geklammert?
Wolli hatte dem Gurkenfeld den Rücken gekehrt und hielt auf das Dorfwirtshaus zu. Zapfenstreich war erst um zehn Uhr abends, noch etliche Stunden bis dahin. Er wusste nicht so recht, wie er sich die Zeit dazwischen vertreiben sollte. Der Gurkenflieger kam jedenfalls nicht in Frage. Wolli war ja nur deshalb aufgestiegen, weil er die Möglichkeit nutzen wollte, Renate zu begrapschen. Sie hatte recht nette Rundungen entwickelt.
Er setzte sich in den Streusel’schen Biergarten und dachte vor einem Bier darüber nach, bei welchem Mädchen er – wenn möglich heute noch – landen könnte.
Von klein auf hatte er gelernt, sich zu beschaffen, was er haben wollte. Er hatte die Habendorfer beklaut, um an die Modelle der Scheller-Jungen zu kommen, er hatte die Neuhausener ausspioniert und damit seinem Ziehvater zu einer Position verholfen, die letztendlich ihm selbst zugutekam.
Unglücklicherweise konnte zwar Max, was Wollis Bildungsweg betraf, trotz aller Günstlingswirtschaft nichts für ihn tun, aber für Schulfächer interessierte sich Wolli ohnehin nicht besonders. Obwohl Max weiß Gott an sämtlichen Fäden gezogen, ja schier gezerrt hatte, obwohl Rita mit der Geduld eines
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