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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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selbst um den Laden kümmern musste, weil sich Liesl und Gerda zum Gurkenpflücken abgemeldet hatten.
    Weil Liesl bloß Schweigen als Antwort auf ihre Frage bekam, fuhr sie fort: »Einer muss in die Villa rüber und es der Anna sagen.«
    Daraufhin machte sie Anstalten zu gehen. Max hielt sie zurück. »Ich mach’s schon«, sagte er und setzte zögernd hinzu: »Dich brauchens jetz da.«
    Liesl nickte und begann, den Tisch abzuräumen. Gerda wollte schon hinter Max herlaufen, überlegte es sich aber anders. Grübelnd stapelte sie benutzte Teller aufeinander und dachte darüber nach, wie ihre Mutter die Nachricht wohl aufnehmen würde.
    »Gott sei Dank«, flüsterte sie plötzlich.
    Was Gerda so spontan danksagen ließ, war der Umstand, dass ihre Mutter durch Max von Helgas Tod erfahren würde – und nicht durch Liesl.
    Liesl konnte Anna ja schon mit ihrer bloßen Gegenwart zur Raserei bringen, als Unglücksbotin wäre sie Zündstoff, Brandbeschleuniger, Sprengsatz. Max dagegen würde wie eine warme Umarmung auf Anna wirken.
    Er sah deutlich angeschlagen aus, als er zurückkehrte. Kurz darauf begann er, mit Rita zu flüstern.
    Gerda spitzte die Ohren.
    »Nicht die Helga«, hatte Anna geheult und mit ihren Fäusten auf seine Brust getrommelt. »Wie kann mir der Herrgott die Helga nehmen und mir die Liesl dalassen? Wie kann er denn das?«

6
    »Meine Renate hat beim Nothaft – Druckerei und Zeitschriftenverlag Nothaft – eine Lehrstell angnommen«, berichtete Liesl im Sommer 1959 der im Moment einzigen Ladenkundin. »Am 1. September wills anfangen.«
    »Ah«, sagte die Metzgerin und schichtete zum dritten Mal die Kaffeehaferln um, ohne sich für eines entscheiden zu können. »Hat sich ja Zeit lassen. Und was lernts jetz in derer Druckerei?«
    Statt auf die Frage zu antworten, begann Liesl eifrig, die Einkäufe der Metzgerin in Zellulosepapier einzuschlagen. »Fünfzig Weckglaslgummi, zehn Weckglasldeckel, ein Sieb grob, eins fein. Hamer’s dann?«
    Die Metzgerin nickte, trennte sich sichtlich schweren Herzens von den Kaffeehaferln und legte einen Zehn-Mark-Schein auf den Tresen.
    Liesl gab das Wechselgeld heraus. »Dank Ihnen recht schön und kommen S’ fei bald wieder.«
    Als das doppelte »Bing« der Ladenglocke angezeigt hatte, dass die Kundin außer Hörweite war, beschwerte sich Liesl bei den Kaffeehaferln: »Manche Leut können schon saublöd fragen, dermaßen saublöd können die fragen …«
    Gerda, die seit einer halben Stunde Rouladenspieße zählte und zu Fünferpäckchen bündelte, hätte eigentlich auch gern gewusst, welche Arbeiten Renate als Lehrling in einer Druckerei aufgetragen werden würden.
    Aber weder die Metzgerin noch sie sollten es je erfahren, denn so weit sollte es gar nicht kommen.
    Das nächste »Bing« der Ladenglocke kündigte Ella, die Himmelberg-Bäuerin, an. Sie kaufte einen neuen Handbesen und ein Paket mit fünfzig Stück Wäscheklammern, dann wandte sie sich an Gerda.
    »Hättst du morgen Nachmittag Zeit zum Gurkenmessen? Der Radio sagt schöns Wetter voraus, deswegen möcht der Willi am Freitag am Hubinger Feld die erste Gurkenernte einfahrn. Aber es is net gwiss, ob die Gurkerl aufm Hubinger draußen schon weit gnug sind.«
    Gerda nickte begeistert.
    Gurkenmessen war Gerdas Passion, und zudem war es ein äußerst verantwortungsvolles Amt, denn de facto leitete derjenige den Countdown für den Start des Gurkenfliegers ein, der berechnen konnte, wann die kritische Gurkenmasse die Längenmarke erreicht hatte.
    Wie zu erwarten gewesen war, hatte Willis Beispiel die Gurkenernte rund um den Himmelberg revolutioniert. Einer nach dem andern hatten ihn die Bauern der benachbarten Höfe gebeten, Gurkenflieger für sie zu bauen. Im Winter 1958/1959 hatte er drei davon angefertigt, und jeder wies gegenüber seinem Vorgänger Verbesserungen auf. Bei Willis neuestem Modell mussten die Tragflächen nicht mehr am Traktor befestigt werden. Sie liefen auf eigenen Rädern, sodass sie ganz bequem an jedwede Zugmaschine angehängt werden konnten.
    Gerda arbeitete sich seit einer halben Stunde konzentriert an den Reihen der Gurkenpflanzen entlang, legte ihr Maßstöckchen akkurat an, schaute scharf hin. Die Gurkenernte würde nur dann den maximalen Gewinn einbringen, wenn das Gros der Gürkchen nicht mehr als zehn und nicht weniger als fünf Zentimeter maß. Gerda kontrollierte und prüfte so vertieft, dass sie nicht mitbekam, wie Renate plötzlich davonsprang. Sie hätte wohl selbst nicht sagen

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