Der kleine Fluechtling
tibetanischen Mönchs versucht hatte, Wolli das Bruch- und Dezimalrechnen einzupauken und ihm die Rechtschreibfehler auszutreiben, die er massenhaft in einem einzigen Satz produzierte, obwohl Max Hunderte von Nachhilfestunden bezahlt und eine Schwadron von Privatlehrern beschäftigt hatte, war es nicht gelungen, Wolli in einer höheren Schule unterzubringen, nachdem er im Herbst 1954 die Volksschule mit einem abgrundtief schlechten Zeugnis beendet hatte. Sosehr Max sich auch den Kopf darüber zerbrach, wie Wolli eine anständige Ausbildung oder eine geeignete Lehrstelle zu verschaffen wäre, sowenig tat sich auf. Bis Anfang 1958 der Einberufungsbefehl ins Haus flatterte.
Die Bundeswehr, 1955 geborene Tochter der so unrühmlich aus dieser Welt gegangenen Wehrmacht, verlangte nach Rekruten. Es hatte eine Weile gedauert, alle Wehrpflichtigen zu erfassen, aber seit April 1957 rückten sie ein. Auch Ulrichs Name war gelistet, er sollte jedoch freigestellt werden, weil schon Anton Wehrdienst leistete. Gerhard, Bulli und Sabe waren auch eingezogen worden. Alle vier hatte man für das Jahr ihrer Dienstpflicht in die Bundeswehrkaserne Regen abkommandiert. Wolli dagegen sollte in Bogen stationiert werden.
Als er zum ersten Mal in Uniform am Himmelberghof auftauchte, dämmerte wohl allen, dass er seinen vorbestimmten Platz gefunden hatte.
Staunend sagte Anna Langmoser: »Wer hätt sich des denkt, dass sich der Galgenvogel in einer Uniform so fein macht.«
Schon einige Zeit bevor sich Wolli militärisch aufputzen durfte, hatte er angefangen, seine zweifelhafte Gabe darauf zu verwenden, an etwas zu gelangen, auf das er inzwischen viel mehr scharf war als auf Flugzeugmodelle oder sonst irgendetwas. In Wolli hatte sich bald nach der Pubertät eine Tag und Nacht schwelende Geilheit ausgebreitet.
Nun hockte er also im Streusel’schen Biergarten und ließ die Töchter von Beamten, Bauern und sonstigen Neuhausenern Revue passieren. Er vergaß weder die Bäckerstochter noch das Mädel vom Metzgerladen, sogar Gloria von Bray-Steinburg zog er in Betracht. Nach einer Weile musste er sich jedoch seufzend eingestehen, dass er in diesem Kaff hier an keine rankommen würde. Selbst wenn eine davon leichfertig genug gewesen wäre, sich mit ihm einzulassen, wie hätte sie der Kontrolle ihrer Eltern entschlüpfen sollen?
Außerdem, sagte sich Wolli einsichtig, ist es nicht ratsam, mit einer Hiesigen was anzufangen – was das anbelangt. Es kommt nämlich raus. In Neuhausen kommt alles raus, und dann muss man mit Konsequenzen rechnen.
Es sei denn, überlegte er weiter, das Mädchen wäre Freiwild.
Dieser Gedanke brachte ihn zu Renate zurück. Die inzwischen fünfzehnjährige Quasi-Verwandte zählte mitnichten als angesehene Bürgerstochter, auch wenn sie gar zu gern als solche gelten wollte. War es nicht geradezu albern, wie sie mit ihren Konditorkünsten und ihren Handarbeiten Eindruck schinden wollte? Doch sosehr man sie auch dafür lobte, sosehr man ihr auch schöntat (wenn man etwas von ihr wollte), sowenig gehörte sie dazu, auch wenn sie nichts lieber wollte als das. Und das machte sie verwundbar. Natürlich hatte Wolli schon früher ein paarmal versucht, an ihr herumzufingern, aber sie war ihm immer entschlüpft. Auf dem Gurkenflieger war sie ihm ausgeliefert gewesen, und sie hatte nicht gewagt, seine Hand abzuschütteln, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.
Wolli grinste dreckig. Renate war wirklich die beste Option. Schöntun konnte er ihr mindestens so gut wie alle anderen. Er konnte ihr sogar allerlei Versprechungen machen. Es musste doch in drei Teufels Namen etwas geben, womit sie herumzukriegen war. Und notfalls konnte Wolli sogar handgreiflich werden. Wer würde dem Bankert schon glauben, wenn Wort gegen Wort stand.
Der Traktor hielt am Ende der letzten Schneise.
Gerda sprang von der Tragfläche und lockerte ihre Schulterblätter. Beide Arme taten ihr weh, es stach und kribbelte im Nacken, ihre Hände fühlten sich taub an. Trotzdem lachte sie übers ganze Gesicht. Auch alle anderen strahlten. War es nicht unglaublich? Innerhalb weniger Stunden hatten sie ein Gurkenfeld abgeerntet, für das sie im Jahr zuvor drei Tage gebraucht hatten.
Der alte Himmelberg-Bauer schlug seinem Sohn Willi wieder und wieder auf die Schulter. »Wer sich so was ausdenken kann … Wer sich so eine Maschin ausdenken kann …«
Es war ihm nicht leichtgefallen, Willi und Ella den Hof zu überschreiben. Würden die beiden zu wirtschaften wissen?,
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