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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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hatte sich der Himmelberg-Bauer oft gefragt. Dennoch hatte er den Schritt getan – letztendlich tun müssen. Und er brauchte seine Entscheidung, sich auf den Austrag zurückzuziehen, keine Sekunde lang zu bereuen.
    Am Himmelberghof wartete ein gedeckter Tisch auf die Erntehelfer. Ella, die neue Bäuerin, hatte eine Porzellanplatte mit Nussecken in die Mitte gestellt, die von zwei Schüsseln voll Zwetschgenbavesen (eine Spezialität der Austragsbäuerin) flankiert wurde. An der Herdseite standen mehrere gefüllte Kaffeekannen. Doch von den beiden Frauen, die daraus einschenken sollten, fand sich keine Spur.
    Als Gerda in die Stube kam, sah sie sich vergeblich nach Ella und der Großmutter um. Wieso ließen die beiden ihre Gäste im Stich? Hinter Gerda war Liesl eingetreten, die sich ebenfalls kurz umschaute, plötzlich aufhorchte und sich dann auf den Weg zu den Schlafkammern machte. Gerda folgte ihr eilig.
    In einer der Schlafstuben saß die Austragsbäuerin weinend auf dem Bett. Ella streichelte ihre Hand.
    »Das Dirndl is tot«, schluchzte sie, als sie Liesl mit Gerda in der Tür stehen sah.
    Ella stand auf, nahm ein schwarz umrandetes Kuvert von der Kommode und reichte es Liesl, die eilig den Briefbogen herauszupfte, der sich darin befand. Gerda stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte den Hals, während Liesl das Anschreiben entfaltete.
    »Münzhausen, den 20. Juli 1958« stand in der Kopfzeile. Alles Weitere vermochte Gerda nicht zu entziffern. Das musste sie auch nicht, denn es wurde ohnehin schon kommentiert.
    »Was schreibt der Helga ihr Bub«, schnaufte der Austragsbauer, »der Schlag hat das Dirndl troffen? Ja wie denn, sie is doch, war doch …«
    »Erst zweiundvierzig«, beendete Max den Satz. Er war gekommen, um den erfolgreichen Einsatz des Gurkenfliegers mitzufeiern.
    Gerda starrte Liesl an, die das Kuvert in den Händen drehte, als warte sie auf eine Botschaft, die die eben erhaltene rückgängig machen würde. Von Liesl irrte Gerdas Blick zu Max und dann weiter zum Großvater. Redeten die drei wirklich davon, dass Tante Helga gestorben war? Tante Helga aus Münzhausen, die ihr erst neulich einen Schottenrock genäht hatte?
    »Aus heiterem Himmel hat sie’s scheints troffen«, sagte Liesl. Dann fasste sie Gerda am Arm. »Wir zwei kümmern uns um die Gäst.«
    Es war sehr still in der Stube. Die Erntehelfer aßen schweigend die Bavesen, tranken stumm den Kaffee. Rita und Max hatten sich dazugesetzt, ein wenig später auch der Austragsbauer.
    Gerda dachte an Münzhausen.
    Die Mutter hatte ihr oft von den Kriegsjahren erzählt, die sie im Haus ihrer Schwester verbracht hatte: »Keinen Tag is es uns schlecht gangen, damals im Sauwald.«
    Damals nicht.
    Aber Gerda hatte durchaus mitbekommen, dass die Verwandten in Münzhausen nach dem Krieg weniger gute Tage gesehen hatten. Helgas Schneiderarbeiten hatten sie nur mühsam über Wasser gehalten. Ohne regelmäßige Naturalienlieferungen vom Himmelberghof (anfangs mit dem Fuhrwerk, später mit Maxens Opel, den Rita chauffierte) hätten sie nicht aus noch ein gewusst.
    Im vergangenen Jahr hatte Helga ihre Schneiderwerkstatt schließen müssen, weil sie mit der Konfektionsware, die neuerdings den Markt überschwemmte, nicht mehr konkurrieren konnte. Sie hatte eine Stelle bei der Textilfabrik » TEBA « angenommen und von Stund an in Akkordarbeit Ärmel in Blusen eingesetzt. Aber so fix Helga auch nähte, in der Lohntüte sah es am Monatsende mager aus. Zum Glück konnte der älteste Bub kürzlich seine Schreinerlehre beenden, der jüngste hatte im vergangenen Herbst als Lehrling bei einer Baufirma angefangen.
    Gerda und ihre Mutter waren hie und da mitgefahren, wenn Max und Rita zur »Kampagne gegen den Hunger in Münzhausen« ausgerückt waren, wie Max die Versorgungsfahrten in den Sauwald seit einigen Jahren nannte.
    Gerda hatte ihre Tante Helga sehr gerngehabt, freilich nicht ganz so gern wie ihre Tante Tina. Helga hatte oft schwermütig, bekümmert und erschöpft gewirkt. In Annas Gegenwart war sie allerdings immer ein wenig aufgeblüht, aber das lag vermutlich daran, dass sich Anna geradezu enthusiastisch gebärdete, wenn sie mit Helga zusammentraf. Für einen Besuch auf dem Himmelberghof hatte Helga nie Zeit gehabt, und es wäre ihr wohl auch schwergefallen, das Geld für die Eisenbahnfahrt aufzubringen.
    »Wer soll’s denn der Anna sagen?«, fragte Liesl plötzlich in die Runde. Außer ihr war offenbar niemandem eingefallen, dass sich Anna heute

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