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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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Caro-Instantkaffee hinein, den sie soeben getrunken hatte.
    »Gerti«, sagte Liesl in der Woche darauf zu ihrer Nichte, »nach der Schul musst gleich in den Laden runterkommen. Die Anna und der Sepp sind doch heut bei der Haushaltswarenausstellung, und ich muss dann auch fort.« Sie warf einen prüfenden Blick aufs Thermometer und fügte hinzu: »Mit viel Kundschaft is ja nicht zu rechnen bei derer Hitz. Aber einer muss parat stehn, falls sich doch wer einfind. Kannst ja die Schrauben sortiern und die Tontöpf abstaubn, damit dir net langweilig wird.«
    Gerda war schon fast aus der Tür, als sie Liesl noch rufen hörte: »Vor Ladenschluss komm ich gwiss nicht heim, bin froh, wenn mir den Sechs-Uhr-Bus noch erwischen.«
    Auf dem Schulweg nickte Gerda wissend vor sich hin. Es hatte längst die Runde gemacht, dass Liesl an diesem Nachmittag mit Renate nach Deggendorf zum Arzt fahren wollte. Fast eine Woche lang hatte sie zugesehen, wie ihre Tochter regelmäßig Instantkaffee auskotzte, bis Ella eines Morgens sagte: »Soll ich mit der Renate mal zum Doktor gehn?«
    Das hatte Liesl offenbar auf Trab gebracht.
    Aber was hatte sie so lange zögern lassen? Eine böse Ahnung, die in wenigen Stunden zur Gewissheit werden sollte?
    »Hab ich mir ja gleich dacht«, sagte Anna Langmoser süffisant, als nach Liesls und Renates Rückkehr aus Deggendorf die Ursache für die Übelkeitsattacken feststand. »Hat man sich ja denken können.«
    »So«, schnappte Liesl, »und kann man sich auch denken, wer das angricht hat?«
    Da musste Anna passen.
    Weil Renate auf die Frage, wer sie geschwängert habe, verstockt schwieg, nahmen Anna und Liesl (erstaunlicherweise einträchtig) Gerda ins Verhör. Aber Gerda konnte sich von allen am wenigsten denken, wieso Renate ein Kind bekam. Da wandten sich Anna und Liesl wieder der werdenden Mutter zu, und im Laufe der Woche eilte ihnen die ganze Verwandtschaft zu Hilfe.
    Gerda hörte mit, wie Liesl flehend auf Renate einredete, wie Anna ihr drohte, wie Ella ihr schöntat, wie Max versuchte, ihr mit Vernunft beizukommen. Irgendwann tauchte sogar Wolli am Himmelberghof auf. Er begleitete Renate ins Dorf hinunter, weil Willis Sonntagsschuhe, die neu besohlt worden waren, vom Schuster abgeholt werden mussten.
    Kaum waren die beiden zurück, tat Renate den Mund auf.
    »Der Streusel Erwin war’s«, sagte sie, »am Sonntag vor Peter und Paul is er aus seiner finstern Flez krochen, grad wie ich mich mit zwei Flaschen Bier fürn Großvater aufn Heimweg machn wollt. Der Erwin hat mir den Mund zughalten und hat mich ins Gebüsch zerrt. Ich hab überhaupt keine Luft mehr kriegt, und deswegen is mir schwarz vor Augen worden. Wie ich wieder zu mir kommen bin, is der Erwin fort gwesen.«
    Liesl begann auf der Stelle, alle Qualen der Hölle »für Erwin, das Sauviech« heraufzubeschwören.
    »Langsam, langsam«, mischte sich da die Austragsbäuerin ein. »Vielleicht hat die Renate die Gschicht erfunden, vielleicht auch nicht, aber eins is gwiss, der Vater von dem Kind kann der Erwin net sein.«
    »Wie kannst denn so was daherreden?«, fauchte Liesl ihre Mutter an. »Woher möchst denn das wissen, warst dabei?«
    »Am Sonntag vor Peter und Paul bin ich net dabei gwesen«, sagte die Austragsbäuerin darauf ernst, »aber 1938 war ich dabei, wie der Erwin auf Mainkhofen kommen is. Er hat damals zwei Möglichkeiten ghabt, der Erwin: kastrieren lassen oder vergast werden.«
    Liesl presste die Lippen aufeinander.
    In den folgenden Monaten wurde Renate immer mal wieder ins Gebet genommen, doch sie blieb stoisch bei ihrer Geschichte.
    Das Kind der nun knapp siebzehnjährigen Renate kam im Frühling 1960 zur Welt und überführte den Schuldigen postwendend.
    Renate hatte im Geburtenregister »Vater unbekannt« eintragen lassen, aber jedem, der das Kind ansah, musste die Ähnlichkeit mit Wolli ins Auge springen.
    Aus dem Steckkissen reckte sich ein spitzes Schnäuzchen, schwarze Knopfäuglein blinkten in einem dreieckigen Gesicht.
    Wie so was bloß sein kann, sinnierte Gerda mit der Taufkerze in der Hand, das Kind is dem Wolli wie aus dem Gsicht gschnitten. Dabei is der Wolli gar net richtig verwandt mit uns. Der Max hat doch den Wolli bloß an Kindes statt angenommen.
    Arglos schrieb sie die auffällige Ähnlichkeit von Renates Tochter und Wolli einer Laune der Natur zu. Der skandalösen Wahrheit sollte sie erst später auf die Spur kommen.
    Anna Langmoser reagierte – wie viele andere eingesessene Neuhausener auch –

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