Der kleine Fluechtling
können, weshalb ihr auf einmal ins Bewusstsein drang, dass Renate das Maßstöckchen fallen lassen hatte und zu den Hagebuttenstauden am Feldrain gerannt war, hinter denen Wolli stand und ihr offenbar Zeichen gemacht hatte. Die beiden steckten für ein paar Minuten die Köpfe zusammen, schienen über etwas zu verhandeln, dann kehrte Renate zu den Gurken zurück, und Wolli machte sich über die Landstraße davon.
Eine ganze Zeit lang schien es, als sei Wollis Plan aufgegangen. Er hatte allerdings irgendwann handgreiflich werden müssen, weil Schöntun und Versprechungen nichts fruchteten. Ja, nicht einmal Einladungen zum Tanztee im Café Mitterwallner brachten bei Renate den gewünschten Erfolg, und bald war Wolli auch aufgegangen, warum, denn auf dem Tanzboden des Mitterwallner hatte Renate nur Augen für diesen Brauerei-Kerl gehabt, der generell ziemlich begehrt schien. Die beiden hatten sich auch ein paarmal unterhalten und sogar miteinander getanzt. Nun gut, hatte Wolli gedacht, dann eben auf die harte Tour, und er war damit durchgekommen. Auf seine Drohungen hin hatte es Renate nicht gewagt, ihn auch nur mit einem Sterbenswörtchen anzuschwärzen.
»Du wirst schön den Mund halten«, hatte er ihr eingeschärft, »wenn du nicht willst, dass die Neuhausener mit dem Finger auf dich zeigen, wenn du die Kundschaft für deine Handarbeiten nicht verlieren und dein Wohnrecht auf dem Himmelberghof nicht einbüßen willst. Denn all das wirst du erleben, wenn du nicht spurst. Die gesamte Verwandtschaft und jeder einzelne Neuhausener würden sich wie die Bluthunde darauf stürzen, wenn es hieße: Renate wirft sich schamlos dem Brauereierben an den Hals. Sowieso treibt sie es mit jedem, der ihr in die Quere kommt. Nicht einmal vor einem Mitglied der Familie macht sie halt.«
Renate glaubte ihm, und daher war sie ihm zu Willen gewesen. Eine Zeit lang. Aber dann mehrten sich die Anzeichen dafür, dass sie ihm durch die Finger schlüpfen wollte. Sie begann nämlich – was Wolli nicht verborgen blieb –, sich um eine Lehrstelle zu bemühen. Wolli folgerte daraus, dass sie nach einem Sprungbrett suchte, von dem aus sie sich von den Neuhausenern und den Verwandten vom Himmelberghof wegkatapultieren konnte, und seien es nur ein paar Kilometer. Er ahnte, dass es ihr nicht leichtgefallen sein dürfte, den Traum von einem eigenen Handarbeitsgeschäft am Himmelberg aufzugeben. Aber offenbar war es ihr das Opfer wert. Renate würde sich ihm also langsam, aber sicher entziehen. Nun gut. Sollte sie. Er würde schon eine andere finden. Im Übrigen hatte er Renates zunehmende Niedertracht sowieso allmählich satt. Ständig widerfuhren ihm Missgeschicke: Brandlöcher in der Uniformjacke, aufgeschlitzte Fahrradreifen, Jauche in den Kampfstiefeln … Wolli zweifelte nicht daran, dass Renate hinter all dem steckte.
Gerda war in ihrem Abschnitt des Feldes erst zur Hälfte fertig, als Renate ihr zurief: »Ich hab’s dann, ich geh heim.«
So schnell geht’s bloß, wenn man schlampt, dachte Gerda.
Laut sagte sie: »So schnell geht’s bloß, wenn man das Steckerl auf Armläng ans Gurkerl hält und von der Weiten einen Blick draufwirft.« Dabei fiel ihr gar nicht auf, dass Renate längst weg war und sie nicht mehr hören konnte. Als sie es bemerkte, fuhr sie zu sich selbst fort: »Bei so einer wichtigen Arbeit darf man nicht schludern. Man darf sich nicht beirren lassen, muss alles sorgfältig messen.«
Trotz (oder gerade wegen) Gerdas löblicher Arbeitsmoral wurmte es sie, dass Renate den gleichen Lohn einstreichen würde wie sie. Willis Nichten brauchten nämlich nicht umsonst zu arbeiten. Der Onkel zahlte fürs Gurkenmessen in barer Münze, und seine Frau Ella steuerte gewöhnlich noch eine Dropsrolle oder ein Tütchen Waffelbruch bei.
Früher hatte Gerda auch die Münzen in Süßigkeiten und in Brausewürfel umgesetzt. Doch seit einiger Zeit investierte sie jede einzelne in ein lebensgroßes Hochglanzplakat von Peter Kraus. Die Zeitschrift »Bravo« (bei Burgel am Tresen erhältlich) lieferte zuverlässig jede Woche ein Beiblatt mit einem Stückchen davon. Erst neulich hatte Gerda die berühmte Haartolle über der Stirn festgeklebt, der Rest des Gesichts fehlte noch.
»So«, sagte Gerda, »jetz is es geschafft. Und die Gurkerl, ja, die sind so weit. Die kann der Willi morgen schon einbringen.«
Als sie später am Himmelberghof in die Wohnküche trat, um ihren Lohn abzuholen, hing Renate über dem Ausguss und kotzte den
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