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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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tatsächlich verwirklichen ließ.
    Endlich klaubte er seine Courage zusammen und bat den Ingenieur um einen Moment seiner Aufmerksamkeit. Unter den wachsamen Augen des Fertigungsleiters rollte Ulrich eine Blechtafel in Kegelform und steckte das spitze Ende einem herumliegenden Rohrstück ins offene Maul. Als er die Hand zurückzog, öffnete sich die Spitze des Kegels, und das Blech schmiegte sich innig an seine Ummantelung.
    Der Diplom-Ingenieur pfiff durch die Zähne, und selbst Firmentreu, wie Ulrich den Bürochef nannte, seit ihn die Erinnerung an Führertreu überfallen hatte, schnaubte anerkennend.
    Eiligst formte man Trichter aus den Stahlplatten, um sie sodann ineinanderzustecken, und war dank Ulrichs Vorschlag in der Lage, termingerecht praktisch nahtlos verbundene Rohrschlangen für die indischen Kühlhäuser zu liefern.
    Wenige Tage nachdem der Auftrag erledigt war, sagte der Diplom-Ingenieur fast beiläufig zu Ulrich: »Bub, du hast Grips. Schad um dein Talent. Warum schreibst du dich nicht am Polytechnikum ein? Kannst auf mich zählen, wenn du Rückhalt brauchst.«
    Der kleine Anstoß genügte, um Ulrich vorwärtszukatapultieren.
    Beherzt atmete er eines Abends tief durch und sagte zu Vater Scheller: »Mechtens mir bei der Werft ein sehr gutes Zeugnis ausstelln. Kennt ich am Poly in München weiterstudiern, meint der Diplom-Ingenieur.«
    Dann hielt er die Luft an, während sein Ansinnen über dem Küchentisch hing.
    Was, wenn der Vater »Flausen« sagte und »Hirngespinste«, was, wenn er die Unterschrift auf dem Anmeldeformular verweigerte, das bereits in Ulrichs Tasche steckte?
    »Mecht dir nich eener was in Weg legen, wo nich eener behaupten kann, du hättest keen Grips nich«, beschied ihm der Vater.
    Ulrich ließ die Luft aus seinen Lungen strömen.
    Aber Vater Scheller war noch nicht fertig. »Musst dir aber alleene durchwurschteln. Kann nich eener sein Leben lang seine Brut unterstitzen, bis er in die Kiste fällt.«
    Sich durchzuschlagen, fürchtete Ulrich, würde nicht so ganz einfach werden. Es galt eine Unterkunft in München zu finden (oder wenigstens in der näheren Umgebung der Landeshauptstadt) und zudem eine Einkommensquelle, die es ihm erlaubte, Kost und Logis zu bezahlen.
    Die billigste Unterkunft, die der Annoncenteil der »Süddeutschen Zeitung« hergab, fand sich im ehemaligen Chauffeurhäuschen eines Starnberger Herrengutes, das von den reichen Besitzern günstig vermietet wurde. In diesem Schuppen wohnte eine quirlige Argentinierin mit ihren fünf Kindern.
    Ulrich zog bei ihnen ein.
    Mitten im Gewirr spanisch-deutscher Wortschöpfungen und französisch-amerikanischer Melodien ackerte sich Ulrich durch Dubbels »Taschenbuch für den Maschinenbau«, Maiers »Grundlagen der Elektrotechnik« und Göldners »Leitfaden der technischen Mechanik«, während ihn die Laute, die dabei unablässig an seine Ohren drangen, allmählich zu behexen begannen.
    Mutter Marietta sang ihre Lieblingshits beim Kochen, beim Waschen, beim Fegen und beim Pinkeln. Ihr Jüngster blies auf Kämmen und trommelte auf Blechschüsseln. Ihr Zweitältester hatte eines Tages irgendwo ein rachitisches Schifferklavier akquiriert und spielte inzwischen geradezu virtuos darauf. Mariettella, die einzige Tochter, hatte es beizeiten zu einer Konzertgitarre gebracht. Was sie damit anstellte, war hörenswert. Mariettas Zweitjüngster besaß eine Flöte, ihr Ältester eine Klarinette.
    »Dio mio!«, schrie seine Mutter, wenn er damit loslegte. »Er spielen es so gut, vieles besser wie Glenn Miller – tranquilo en la mano de Dios.«
    Mariettella pflegte daraufhin ernsthaft zu nicken und hinzuzufügen: »Er ist besser als Benny Goodman und Jimmie Lunceford.«
    Ulrich fand das auch, obwohl ihm Lunceford bisher kein Begriff gewesen war, und seine Augen wurden täglich größer und runder vor Verlangen. Den Geschwistern entging das nicht, und sie fingen an, ihn zu unterrichten, weswegen Ulrich schnellstens Geld für ein eigenes Musikinstrument zurücklegen musste.
    Bisher hatte er drei Nachmittage pro Woche bei einer Zulieferfirma von Klein & Klein gearbeitet, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Nun weitete er seine Schicht auf die Abende aus. Als der Tag kam, an dem er sich für zweihundert Mark eine Trompete leisten konnte, glaubte er, mittlerweile Millionen winziger Kupferstäbchen aneinandergelötet zu haben.
    Bald hatten im Chauffeurhaus Swing und Dixie das Sagen.
    Als er in den Weihnachtsferien 1961 nach längerer

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