Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)
was wissen will, bevor er zu Theodoras Hündchen wird.»
«Und ihr?», fragte der Flügel, der langsam ärgerlich wurde. «Seid ihr die großen Kämpfer, oder spielt ihr doch einfach nur mit, wenn die Alte befiehlt, und spuckt nur heimlich große Töne?»
Die Trommel neigte sich nach vorn. «Ein Punkt für dich, Flügel», sagte sie. «Du hast recht. Wir sind auch keine Helden. Unser Herrscher, der Bergkönig, schickt uns Schlaginstrumente her. Und wir tun hier für einige Monate unsere Arbeit. Bis endlich die Ablösung kommt. Was zum Glück in zwei Wochen der Fall ist. Stimmt’s?»
Die Becken nickten: «Endlich nach Hause!»
«Und was hat der Bergkönig davon?», fragte der Flügel.
«Es ist die magische Energie», antwortete die Trommel. «Bevor wir gehen, schickt uns die Orgel zum Monument. Alle bis auf uns müssen den Raum verlassen. Und dann öffnet sich etwas unter dem Monument. Ein Spalt. Licht strömt heraus, umfängt uns, und für Wochen leuchten wir in einem unheimlichen blauen Schimmer. Wir sind sozusagen damit aufgeladen. Es prickelt. Und der Bergkönig saugt diese Energie dann später ab. Er liebt sie, weil er davon gut träumt.»
Dann nickten die beiden Schlaginstrumente dem Flügel zu und ließen ihn stehen.
Der rollte wieder in die Mitte der Halle. Es fühlte sich immer noch seltsam an, dass er sich so ohne weiteres von selbst bewegen konnte. Auf einmal fiel ihm das Cembalo ein, das ja mit seinen Beinen wie eine Spinne ging. Das wollte er jetzt auch versuchen. Gehüpft war er ja schon mal, als der grobe Kerl vor dem Tor ihn so erschreckt hatte. Vorsichtig versuchte er, seine Beine zu beugen. Es funktionierte! Er konnte gehen wie ein Mensch! Er krabbelte in Richtung des Aufzugs und blieb schließlich vor der Treppe stehen. Die Treppe nach oben, das war die Grenze. Unmöglich, dort hinaufzukommen. Oder doch nicht? Sanft setzte der Flügel sein erstes Bein auf die unterste Stufe, dann das andere auf die nächsthöhere. Es ging! Er konnte – wenn auch etwas mühsam – tatsächlich die Treppe hinaufgehen. Und das tat er auch. Immer höher. Er war so begeistert von dieser Fähigkeit, dass er erst stoppte, als er plötzlich die Stimme der Orgel hörte und erstarrte.
Nur noch eine Windung der breiten Treppe trennte ihn von Theodoras Thronsaal, noch konnte sie ihn nicht sehen. Die Orgel war anscheinend erwacht und sprach mit jemandem. Jetzt hörte er ihre Worte deutlich:
«Guarneri», sagte sie leiser als gewohnt. «Du bist meine treueste Dienerin geworden. Du lebst meine Botschaft mit jeder deiner Saiten. Ich traue dir mehr noch als meinen Verwandten, den Tasteninstrumenten, deshalb weihe ich dich in den großen Plan ein. Alle hundert Jahre steht der Notenmond in einer besonderen Konstellation. Wenn er in dieser Zeit seinen höchsten Punkt erreicht hat und senkrecht über der Ebene in einer Linie mit dem großen Gebirge steht, öffnet sich für eine kurze Zeit ein Riss in den Dimensionen. Die Menschenwelt mit all ihrem musikalischen Chaos wird verwundbar sein. Wenn wir in diesen besonderen Minuten das älteste Lied der Welt spielen, in perfekter Harmonie, in perfektem Klang, wenn die besten Instrumente der Welt sich im Gleichklang vereinen und die Seikilos-Noten spielen, wenn kein Instrument fehlt und jeder funktioniert … dann, Guarneri, gibt es die magische Drift, und die Dimensionen bewegen sich für kurze Zeit aufeinander zu. Eine unsichtbare Brücke entsteht. So steht es in den alten Texten geschrieben. Es hat immer schon musikalische Veränderungen in der Menschenwelt gegeben. Etwa alle hundert Jahre hat sich seit Anbeginn der Zeit die Musik entschieden gewandelt. Aber unser Lied wird etwas Grundsätzliches in der Menschenwelt verändern. Sie werden nicht wissen, warum, und sie werden nicht wissen, wer dafür verantwortlich ist. Aber dann werde ich auch dort die Macht über die Musik haben! Und nach und nach werden sie das Herumklimpern, das Improvisieren, diese nutzlosen Spielereien lassen und sich schließlich in Gänze dem Geschriebenen ergeben. Und es gibt noch einen netten Nebeneffekt: Die magische Drift wird mir auch die Macht über alle Schlaginstrumente geben. Auch hier, in dieser Welt. Dann brauche ich diesen lästigen Bergkönig nicht mehr.»
Der Flügel war entsetzt. Die Welt, aus der er stammte, die Welt von Bernhard Ogermann und anderen Musikern, sollte ebenfalls dem Diktat der Orgel unterstellt werden? Das durfte nicht passieren! Aber was sollte er tun? Er war machtlos!
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