Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)
blickte zu den Zelten hinüber, und sie spürte, dass sich neben den Gefühlen, die sie für den tapferen Flügel empfand, noch etwas anderes in ihrem Inneren breitmachte. Sie spürte … Zweifel. Zweifel, ob Theodoras Weg der richtige war.
Aber was sollte sie tun? Sie hatte sich ergeben und ihr Schicksal in die Hand der mächtigen Orgel gelegt.
Langsam ging sie in ihr Zimmer und versuchte vergeblich, noch Schlaf zu finden. Doch sie hatte nicht bemerkt, dass die Guarneri sie durch einen Türspalt beobachtet hatte.
Was trieb diese Celesta da draußen vor dem Fenster? fragte sich die fanatische Violine. Kaum hatte sich die Tür der Celesta geschlossen, schwebte die Guarneri auf den Gang und starrte ihrerseits nach draußen. Doch sie erkannte nichts Verdächtiges. Sie sah nur die Ebene, die Zelte dieser dämlichen modernen Instrumente und den Umriss des großen Felsens in deren Lager.
Die Violine wandte sich ab und verschwand wieder in ihrem Zimmer. Es gab viel vorzubereiten. Bald würde der neue Flügel da sein, und dann konnten sie beginnen, Theodoras Plan in die Tat umzusetzen. Der Notenmond stand schon hoch. Es war Zeit für die magische Drift, die die Musik in allen Welten entscheidend verändern würde. Keine Experimente mehr. Kein Chaos. Keine Improvisation. Nur noch die Norm. Das Diktat der Orgel. Alles würde berechenbar sein. Alles würde beherrschbar sein.
Ein wohliger Schauer durchlief den teuren Klangkörper der Guarneri.
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Im Turm
N ach dem Beisammensein im Lager ruhten sich die Freunde erst einmal aus und trafen sich in der kommenden Nacht wieder, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Harp spielte zusammen mit der akustischen Gitarre «We Shall Overcome», und die Sampler steuerten dazu aus ihren Tonarchiven Auszüge aus berühmten Reden berühmter Menschen bei, deshalb hörte man den amerikanischen Präsidenten Obama dauernd «Yes we can» in die Runde rufen.
«Wir müssen uns in Ruhe überlegen, wie wir überhaupt in den Turm hineinkommen und was wir dort genau tun wollen», sagte der Flügel.
«Du meinst, wir brauchen einen Plan?», fragte Moog etwas dusselig.
«So kann man es auch ausdrücken», sagte der Flügel schmunzelnd.
«Ein Plan könnte nicht schaden», bestätigte auch Strato. «Obwohl …», fügte sie hinzu, «… als wir damals los zum Bergkönig sind, hatten wir auch keinen. Wir sind einfach losgedüst. Vielleicht sollten wir einfach rein in den Turm und gucken, was passiert.»
«Entschuldige, Strato», sagte der sonst so schweigsame Fendi. «Aber das ist ein echter Scheißplan.»
Alle lachten.
«Selbst wenn wir einfach so reinwollten», sagte der Flügel, «wüsste ich nicht, wie. Erinnert ihr euch nicht mehr an dieses steinerne, massive Tor? Da war kein Durchkommen.»
Alle Instrumente grübelten, als sie plötzlich von einem leisen Schrei aufgeschreckt wurden. Der kam von Tri, die etwas oberhalb des Felsens schwebte und gerade in Richtung Turm sah. «Da in der Ebene passiert was», sagte sie.
Alle sahen vorsichtig zum Turm hinüber. Tatsächlich! Ein bläuliches Flimmern war etwa hundert Meter vor dem Turm zu sehen. Dann dehnte sich das Flimmern aus, ein Donnern ertönte, und wie aus dem Nichts erschienen auf einmal die rothaarige Frau, der große Mann – und zwischen beiden stand ein großer schwarzer Flügel.
«Verdammt», rief Strato. «Sie haben einen neuen Flügel. Jetzt kann die blöde Orgel dieses alte Lied bald in voller Besetzung spielen.»
Schweigend sah der Flügel zu, wie die Rothaarige und der grobe Kerl seinen Kollegen mit Tritten dazu brachten, in Richtung Turm zu rollen.
«Die Zeit läuft uns weg», sagte er leise. «Wir müssen handeln.»
Alle schwiegen und dachten nach. Dann schreckte der Flügel hoch. «Dieses runde Schloss. Das sah doch aus wie eine Trommel.»
«Ja, und?», fragte Moog.
«Denkt doch mal an die Rhythmusinstrumente», rief der Flügel. «Sie kommen durch den Tunnel und wollen rein in das Innere des Turmes. Das Schloss ist eine Trommel. Die Lösung muss irgendein Rhythmus sein.»
«Dann», sagte Moog und ließ aus seinen Modulen heraus das Anfahren einer Lokomotive ertönen, «dann sollten wir sofort los, meine sehr verehrten Damen und Herren aus der beliebten Abteilung Tapfere Instrumente, und versuchen, dieses Rhythmusrätsel zu lösen.»
Und schon waren die fünf Gefährten wieder unterwegs.
Vorsichtig schlichen sie sich zum Eingang des Tunnels, huschten hinein und standen schließlich wieder
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