Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)
vor dem massiven Tor mit Theodoras Bild und dem Trommelschloss.
«Und was jetzt?», fragte Fendi.
«Tri, klopf mal irgendwas», bat Strato.
Tri schwebte hin und klopfte ein paarmal mit ihrem Schlagstab gegen das eiserne Schloss.
Nichts geschah, nur das Echo der leichten Schläge grummelte aus dem Innern des Turmes zurück.
«Es kann doch nicht so kompliziert sein, hier reinzukommen», brummte Fendi. «Der Bergkönig schickt immer seine Offiziere, um im Orchester der Erhabenen zu spielen. Die müssen hier doch auch durch. Wahrscheinlich haben die so eine Art Klopfzeichen vereinbart.»
«Es gibt in der Welt der Schlaginstrumente unzählige rhythmische Übungen», sagte der Flügel, «ich habe die früher selbst oft gepaukt.»
«Ich auch. Ich auch», fiepte Tri. «Das Problem bei mir war bloß, dass ich nur einen Schlägel habe und die abwechselnden Figuren nicht spielen konnte. Roll, Paradiddle, Mühle habe ich mit einem Kumpel geübt.»
«Rhythmische Übungen», murmelte Moog. «Das könnte es sein. Schaut mal, das Trommelschloss ist links und rechts an den Rändern sehr abgewetzt, als ob abwechselnd geschlagen wurde. Was hast du gesagt, Tri? Roll? Das sind zwei links, zwei rechts, nicht wahr? Lasst es uns mal zu zweit probieren.»
Tri hob ihren Schlägel, Strato stellte sich direkt unter das Trommelschloss und machte ihren Gitarrenhals zum Schlagen bereit.
«Los», rief Tri, und beide probierten den Roll aus. Ohne Erfolg.
«Jetzt der Paradiddle», sagte Tri. «Das ist links, rechts, links, links, rechts, links, rechts, rechts …»
Kaum hatten sie die rhythmische Figur zum ersten Mal komplett durchgetrommelt, da knirschte das Tor plötzlich.
«Es tut sich was», flüsterte Tri.
Das Knirschen wurde lauter. Der gesamte Rahmen des Tores begann zu erzittern, und dann öffnete es sich langsam und knarrend wie von Geisterhand und gab den Blick auf einen Gang frei.
Das rhythmische Rätsel war gelöst – und der Weg in den Turm frei.
Fast blinde Lampen an den grob behauenen Wänden sorgten für ein schummriges Licht. Es ging geradeaus und leicht bergab. Dann änderte sich die Umgebung, die Wände waren jetzt kunstvoll mit Holz verkleidet, dessen Oberfläche mit zahllosen Noten geschmückt war.
«Sieht ja ganz nett aus hier», kommentierte Strato.
Auf einmal blieben alle abrupt stehen, denn wie aus heiterem Himmel ertönten plötzlich sehr schnelle Tonfolgen um sie herum, und kleine Lichtblitze erhellten den Raum.
«Was sind das für Dinger?», fragte Tri erschrocken.
Fasziniert starrten die Gefährten auf die unzähligen kleinen flirrenden Lichter, die in einiger Entfernung auf und ab tanzten wie ein Schwarm Glühwürmchen.
Einige von ihnen standen sirrend in der Luft, um dann kurz darauf wie Feuerwerksheuler wegzurasen. Und immer wieder waren diese irrsinnig schnellen Tonfolgen zu hören.
«Das sind Tremolos und Triller», sagte der Flügel. Er erinnerte sich, dass er die vor einer gefühlten Ewigkeit mit Bernhard Ogermann einen ganzen Tag lang aus einem Notenlehrbuch studiert hatte.
«Diese Triller gehören zur Familie der Verzierungen. Sie werden auch Manieren genannt», erklärte er Moog und den beiden E-Gitarren. «Hier kann man sie offenbar nicht nur hören, sondern auch sehen.»
«Und fühlen», rief Moog, der erschrocken zur Seite gerollt war. Einer der umherirrenden Triller war gegen ihn gestoßen, und das hatte ein bisschen weh getan.
«Irre», kommentierte Moog. «Hier im Fundament des Turmes nehmen Töne Gestalt an. Sie materialisieren sich. Faszinierend.»
«Passt auf, dass euch die Triller nicht treffen», warnte der Flügel. «Sie scheinen hier unten gefangen zu sein und haben dementsprechend schlechte Laune. Ich nehme an, die Erhabene hat sie hier eingesperrt. Verzierungen lassen zu viel interpretatorischen Freiraum zu. Sie predigt ja nur die reine, wahre Lehre der echten Noten.»
«Trillern kann ich auch», rief Tri. «Ich bin die Meisterin der Tremolos! Und besonders gut kann ich Vorschläge und Doppelvorschläge!»
Sie wollte gerade ihren Klöppel schwingen, als plötzlich ein dicker Pralltriller erst haarscharf an der Triangel und dann sehr dicht an der Tastatur des Flügels vorbeiraste. Erschrocken rollte der ein Stück nach hinten und erwartete, an die Wand des Ganges zu stoßen. Doch die gab nach, und knarrend öffnete sich eine Tür. Sie war von der Außenseite nicht auszumachen gewesen, weil sie kunstvoll in die Holzverkleidungen integriert worden war, die den Gang
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