Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)
Offenbar konnte er seine neuentdeckte Macht noch nicht richtig kontrollieren, aber schließlich gelang es dem Flügel, in dem Buch zu blättern, als ob er Hände hätte.
Leise waren seine Gefährten hinter ihn getreten und beobachteten gebannt und schweigend, was ihr Freund dort Faszinierendes machte.
«Das nennt man Telekinese», flüsterte Moog. «Dinge mit der Kraft der Gedanken bewegen. Flügel, du bist immer wieder für eine Überraschung gut.»
«Da, warte mal», rief Strato plötzlich. «Blättere mal zurück. Ich habe da eben ein Bild von dieser Lyra gesehen, von der du uns erzählt hast. Ein Instrument mit vier Saiten, das blau leuchtet.»
Der Flügel blätterte zurück, und tatsächlich: Da war ein Bild der Lyra zu sehen. «Die göttliche Kraft» stand daneben geschrieben. Und daneben sah man eine Art Querschnitt durch den Turm auf einer sehr detailreichen Zeichnung. Im Mittelpunkt des Turmes thronte auf der oberen Ebene Theodora. Die grausame Orgel war auf dieser Zeichnung durch ein sonderbares Geflecht, das wie Wurzelwerk aussah, mit dem Monument verbunden, das im hinteren, unteren Teil des Turmes stand. Wie ein Baum, der sich durch Wurzeln tief ins Erdreich hinein mit Energie versorgte. Auch das Monument war sozusagen zeichnerisch aufgeschnitten worden. Man sah deutlich, dass in seinem steinernen Inneren in einem Hohlraum etwas Leuchtendes gefangen war. Kein Zweifel – der Flügel erkannte sofort, dass ihm sein Traum die Wahrheit gezeigt hatte. Im Monument der Theophanu war die Lyra gefangen, ein zartes Instrument von schlichter Schönheit mit nur drei Saiten. Und diese Lyra göttlichen Ursprungs schien mit ihrer Kraft die Orgel durch das Wurzelgeflecht hindurch zu nähren, denn von diesem sagenumwobenen Instrument aus führten etliche blau schimmernde Linien hinauf in Theodoras großen Leib. Die Lyra – sie war der Ursprung, der Kern von Theodoras Macht.
«Befreie die göttliche Kraft», flüsterte der Flügel leise.
«Schaut mal», sagte Strato, «da unten geht die Zeichnung weiter.»
Nun erkannten die Gefährten auch den unteren Teil des Turmes, dessen größter Teil das Gewölbe war, in dem sie sich befanden. Und in dieses Gewölbe führte direkt aus dem Inneren des Monumentes ein Gang hinab, der in einem großen Raum endete – der «Halle der Intervalle».
«Das ist es», sagte der Flügel, und seine Stimme bebte. «Das ist der Weg zur Lyra. Wir müssen irgendwie in diese Halle der Intervalle kommen. Von dort führt ein Weg zur Lyra.»
«Hier befinden wir uns gerade», flüsterte Tri und zeigte mit ihrem kleinen Klöppel auf einen weiteren Raum, der als «Bibliothek» gekennzeichnet war.
«Richtig», bestätigte der Flügel. «Aber man kann nicht erkennen, wie wir von hier in diese Halle kommen. Es ist ein ganzes Gewirr von Gängen zu sehen.»
«Lasst uns einfach losgehen und suchen», schlug Strato vor.
«Ihr geht nirgends hin», ertönte auf einmal eine Stimme hinter ihnen.
Die Gefährten fuhren herum.
Hinter ihnen stand das Cembalo und neben ihm der grobe Kerl und die rothaarige Frau. Beide hielten ein großes Netz in ihren Händen – und ehe der Flügel und seine Freunde zu einer Reaktion fähig waren, warfen die beiden Gestalten das Netz über sie und zogen es straff zusammen. Keiner konnte sich mehr bewegen, geschweige denn entkommen. Sie waren gefangen.
«Ich sehe, dass ihr sehr an meiner Chronik des Turmes interessiert seid», sagte das Cembalo leise, aber mit drohendem Unterton. «Ein geweihtes Buch, das niemand sehen darf. Allein darauf steht die Todesstrafe. Es tut mir fast leid um dich, Flügel. So ein verschwendetes Talent. Dass du lebst, ist ja schon ein kleines Wunder. Aber du und deine Freunde – ihr hättet niemals herkommen dürfen. Und schon gar nicht in mein Refugium. Diese Bibliothek ist ein Heiligtum. Wachen, werft sie in den Kerker! Theodora wird an ihnen ein Exempel statuieren. Und durchsucht sie. Ohne Hilfe von außen können sie nicht in den Turm hineingekommen sein.»
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Im Kerker
D ie dunkelsten Stunden für die Gefährten begannen. Nacheinander wurden sie aus dem Netz geholt und durchsucht. Die rothaarige Frau nahm den magischen Schlägel des Flügels lächelnd an sich; sie hatte sofort erkannt, dass es mit diesem unscheinbaren Ding eine besondere Bewandtnis hatte.
«Interessant, das werde ich gleich der Guarneri zeigen», zischte sie dem groben Kerl zu. «Trenne sie. Der Flügel kommt in den hinteren Kerker, die anderen
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