Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)
auf dieser Seite säumten. Der Flügel hatte sie ungewollt aufgestoßen – gerade rechtzeitig, wie sich herausstellte, denn die Triller und Tremolos hatten sich mittlerweile etwas weiter vor ihnen im Gang zusammengeschlossen und flogen wie eine überdimensionale, wabernde Raupe funkelnd in ihre Richtung.
Kurz bevor sie die Gefährten erreichten, gelang es allen, durch die Öffnung zu schlüpfen, und mit vereinten Kräften warfen sie die schwere Tür in ihr mächtiges Eisenschloss.
Stille.
Die Freunde benötigten eine Weile, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Einzig ein alter, großer Messingleuchter, der in einiger Entfernung knapp drei Meter über dem Boden hing, spendete etwas Licht. Er hing an einer langen Kette, die aus dem Nichts zu kommen schien. Erst jetzt registrierten die fünf, dass sie in einem Raum von gewaltigen Ausmaßen standen. Und alle Wände waren mit schweren hölzernen Regalen bestückt, die wiederum prall gefüllt mit Büchern und ledernen Mappen waren.
«Wow», entfuhr es Strato, «schaut euch das mal an. Mindestens drei Stockwerke bis oben hin gefüllt mit Büchern. Das nenn ich mal ’ne amtliche Bibliothek.»
«Was das wohl für Werke sind?», fragte Tri, schwebte zu einem der Bücher und schlug es auf. «Noten, alles voller Noten.»
Die Gefährten schwärmten aus und untersuchten die Bücher, stöberten in den ledernen Mappen und staunten. Offenbar standen sie hier in Theodoras Archiv, einer gewaltigen Notenbibliothek. Fasziniert ließ der Flügel seinen Blick über die Berge von Notenbüchern schweifen. Überwältigt von der gewaltigen Masse an musikalisch aufgeladener Literatur wagte er sich kaum zu bewegen. Er roch den Duft von vergilbtem Papier und altem Leder, dann rollte er los und untersuchte den gigantischen Raum. Die gebundenen Exemplare waren fein säuberlich in die mächtigen Regale der dreigeschossigen Notenbibliothek einsortiert. Mappen mit weicheren Einbänden lagen übereinandergestapelt. Langsam rollte er an den Regalen entlang und studierte die Noten. Ganz unten waren Werke aus dem Mittelalter, der Renaissance und dem Barock und weiter oben die der Klassik und von jüngeren, romantischen Komponisten aufbewahrt.
«Hier liegt die erste Komposition von Wolfgang Amadeus Mozart aus dem April 1761! Die hat damals noch sein Vater geschrieben, weil der Bengel gerade erst fünf Jahre alt war. Das steht da als Randnotiz», rief Moog.
Die Gefährten versammelten sich um einen Stapel vergilbter Blätter, auf dem Moog seine Entdeckung gemacht hatte.
«Und hier», fuhr der Synthesizer fort. «Das sind die frühesten Musikhandschriften von Johann Sebastian Bach. Kopien von Orgelwerken, die Bach noch als Lateinschüler im Jahr 1700 und kurz davor angefertigt hat.»
«Wusste gar nicht, dass du dich so gut mit so was auskennst», staunte Strato.
«Na ja», antworte Moog. «Auch wenn ich ein modernes Instrument bin, ich interessiere mich eben für Geschichte. Alles hier in meinen Modulen gespeichert.»
Der Flügel rollte langsam wieder in die Mitte des Raumes und ließ seinen Blick nachdenklich über die Regale streifen. Theodora hatte hier eine Notensammlung zusammengetragen, die in der Menschenwelt einen unermesslichen Wert haben musste. Wie schade, dass sich die Orgel dem Bösen verschrieben hatte.
Vor einem der Regale blieb er schließlich stehen, denn in dessen Mitte stand ein in Leder gebundenes Buch aufrecht, das leise zu summen schien. Konnte das sein? Die Vorderseite des Buches zierte ein Abbild Theodoras. Der Flügel spürte, dass es mit diesem Buch etwas Besonderes auf sich hatte. Es war, als ob eine geheimnisvolle Macht ihn hierhergezogen hätte. Er musste in das Buch hineinsehen. Aber wie? Plötzlich veränderte sich der Raum um ihn herum. Es war, als ob sein Geist an das lederne Buch heranraste, und nun konnte er den Einband sehen. In geschwungenen Lettern stand «Chronik des Turmes» darauf. Der Flügel konzentrierte sich mit all seinen Sinnen auf das Buch, und auf einmal bewegte es sich, erhob sich wie von Geisterhand getragen, schwebte hinab und stand direkt vor dem Flügel in der Luft. Wieder einmal hatte er in der magischen Musikwelt eine besondere Fähigkeit an sich entdeckt: Er konnte Gegenstände mit seinem Willen bewegen.
Fasziniert ließ er das Buch ein wenig nach links, dann nach rechts schweben und versuchte vorsichtig, es zu öffnen. Das Buch klappte abrupt auf und wieder zu. Dann schien ein Windstoß die Seiten hin und her zu pusten.
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