Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)
in das Verlies davor. Danach informieren wir die Erhabene. Ich denke, es wird auf eine öffentliche Hinrichtung im Thronsaal hinauslaufen.»
Der Mann nickte nur und führte die hilflosen Instrumente einzeln aus der Bibliothek hinaus in ihre Gefängnisse. An Gegenwehr war nicht zu denken. Der Riese trug einen Vorschlaghammer in seiner Pranke, und er schien bereit, sofort zuzuschlagen.
Wenige Minuten später fanden sich Moog, Strato, Fendi und Tri in einem feuchten, fensterlosen und fest verschlossenen Raum wieder. Spärliches Licht drang durch einen winzigen Spalt in der Tür.
«Ich glaube, das war’s», flüsterte Strato. «Das ist das Ende unserer Reise. Die Orgel wird uns fertigmachen.»
Tri schluchzte leise und sagte: «Sag so was nicht.»
Doch alle hatten die Rothaarige gehört: «Ich denke, es wird auf eine öffentliche Hinrichtung im Thronsaal hinauslaufen.»
«Was wohl unser Flügel jetzt macht?», fragte Fendi schließlich und horchte angestrengt nach draußen.
Der tapfere kleine Flügel stand währenddessen ganz allein im großen Kerker des Turmes. Ein vergittertes Fenster in der großen Tür ließ zumindest ein wenig Licht vom Gang hinein, und der Flügel konnte die grob behauenen, massiven Steine seines Gefängnisses schemenhaft erkennen. Von der Decke tropfte in regelmäßigen Abständen Wasser herunter. Sonst war alles still. Das Letzte, was der Flügel gehört hatte, waren die verhallenden Schritte der rothaarigen Frau und ihres grobschlächtigen Begleiters gewesen. Sie hatten ihn allein ins Gefängnis geschafft, und er wusste nicht, was aus seinen Gefährten geworden war.
Wahrscheinlich erstatteten die beiden Gehilfen gerade Theodora Bericht, und ihre Strafe würde fürchterlich sein. Ein Schauer durchfloss den Flügel von den Füßen bis in den Deckel.
Es war still hier unten, doch die Luft war trotzdem erstaunlich frisch. Das mochte an dem weitverzweigten Luftsystem der Erhabenen liegen. Der Flügel atmete tief durch und lehnte sich an die kühle Mauer.
Jetzt waren sie schon so weit gekommen, und nun war doch alles vorbei.
In dem Moment der tiefsten Verzweiflung kam ihm Bernhard Ogermann in den Sinn. Sein alter Besitzer konnte aus jedem Gefühl heraus eine wunderbare Melodie schreiben. Was Ogermann jetzt wohl gespielt hätte? Der Flügel stimmte eine einfache, melancholische Melodie an.
Sanft perlten die Töne aus seinem Korpus und drangen durch die Ritzen der verschlossenen Tür bis hinein in das Gefängnis seiner Gefährten.
«Hört ihr das?», rief Fendi, als er die ersten Klänge registrierte.
«Ja!», sagte Moog. «Das ist der Flügel. Er spielt.»
Strato lauschte aufmerksam und begann dann, die Melodie mit sanften, tiefen Tönen zu begleiten. Fendi fiel mit ein. Und auch Tri und Moog gaben ein paar passende Klänge zum Besten, und ihre Musik drang durch die Dunkelheit der Kerkerräume.
Der Flügel horchte erfreut auf. Seine Freunde! Sie antworteten ihm musikalisch.
Sofort fühlte er sich besser und spielte weiter, reagierte auf die Noten und rhythmischen Varianten seiner Freunde. Gemeinsam zu musizieren war die einzige Antwort auf ihre verzweifelte Lage. Was immer auch noch geschehen würde: Das hier, die gemeinsame Improvisation, konnte ihnen keiner mehr nehmen. Er fragte sich nur, wie lange sie ihn wohl noch spielen lassen würden. Jeden Moment erwartete der Flügel die Schergen der Orgel, die das kleine Konzert der Gefangenen brutal stoppen würden.
Doch es geschah nichts. Leise, aber mit Inbrunst musizierten die fünf weiter.
Doch da! Was war das?
Der Flügel vernahm ein Geräusch an der Tür und hielt sofort erschrocken inne.
Ein leichtes Kratzen – dann wieder Stille. Auch seine Freunde hatten aufgehört zu spielen.
«Hallo?», entfuhr es dem Flügel, und seine heisere Stimme hallte in den Gewölben wieder.
«Psssst!» kam von der anderen Seite der Tür.
Dann wurde ein Riegel verschoben, und langsam öffnete sich die Tür.
Der Flügel wich zurück an die Mauer. Das Licht vom Gang blendete ihn; doch als er in der geöffneten Tür eine zierliche Gestalt stehen sah, traute er seinen Augen nicht. Es war die Celesta!
«Flieh», flüsterte das zierliche Tasteninstrument. «Ich kann es nicht mitansehen, was hier geschieht. Die Orgel will dich und deine Freunde öffentlich von diesem riesigen Mann zerschlagen lassen, sobald sie mit dem finalen Konzert fertig ist, wie sie es nennt. Es scheint bald so weit zu sein. Alle sind so aufgeregt. Und ein neuer Flügel ist auch
Weitere Kostenlose Bücher