Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Das Nachthemd, das sie anhatte, war sehr alt, mit hauchzarten Volants und Bändern am Hals. Als Harriet klein war, war sie davon
fasziniert gewesen, denn es glich damals dem Gewand der blauen Fee in ihrem Pinocchio -Buch. Jetzt sah es nur alt aus: verschlissen und an den Nähten grau.
Als Harriets Mutter sich umdrehte, um das Eis wieder ins Kühlfach zu stellen, sah sie Harriet am Tisch. »Was ist los?«, fragte sie.
»Zunächst mal«, sagte Harriet laut, »sterbe ich hier vor Hunger.«
Harriets Mutter runzelte die Stirn – unbestimmt, freundlich – und stellte ihr dann ( nein, lass sie es nicht sagen, dachte Harriet) genau die Frage, die Harriet vorausgeahnt hatte. »Warum nimmst du nicht ein bisschen Eis?«
»Ich ... hasse ... diese ... Sorte ... Eis.« Wie oft hatte sie das schon gesagt?
»Hm?«
»Mutter, ich hasse Pfefferminzeis.« Sie war plötzlich ganz verzweifelt. Hörte ihr denn niemand je zu? »Ich kann es nicht ausstehen! Ich hab es noch nie gemocht! Niemand mag es außer dir!«
Mit Genugtuung sah sie das gekränkte Gesicht ihrer Mutter. »Es tut mir Leid ... Ich dachte, wir essen alle gern etwas Leichtes, Kühles ... Jetzt, wo es abends so heiß ist...«
»Aber ich nicht.«
»Na, dann soll Ida dir etwas machen...«
»Ida ist nicht mehr da!«
»Hat sie dir denn nichts dagelassen?«
»Nein!« Jedenfalls nichts, was Harriet haben wollte. Nur Thunfisch.
»Na, was möchtest du denn? Es ist so heiß – du möchtest nichts Schweres«, sagte sie zweifelnd.
»Doch, möchte ich doch!« Bei Hely zu Hause gab es jeden Abend ein richtiges Abendessen, egal, wie heiß es war: ein großes, heißes, fettiges Abendessen, das die Küche dampfen ließ. Roastbeef, Lasagne, gebratene Shrimps.
Aber ihre Mutter hörte nicht zu. »Vielleicht ein bisschen Toast«, sagte sie vergnügt, während sie endlich den Eiscremeeimer in das Kühlfach stellte.
»Toast?«
»Wieso, was ist daran auszusetzen?«
»Man isst keinen Toast zum Abendessen! Wieso können wir nicht essen wie normale Leute?« In der Schule, im Gesundheitskundeunterricht, hatte die Lehrerin die Kinder aufgefordert, zwei Wochen lang ihre Mahlzeiten zu notieren, und Harriet hatte mit Entsetzen festgestellt, wie schlecht ihre Ernährungsweise aussah, wenn man sie schwarz auf weiß vor sich hatte, vor allem an den Abenden, an denen Ida nicht kochte: Eis am Stiel, schwarze Oliven, Toast und Butter. Also hatte sie die Liste zerrissen und aus einem Kochbuch, das ihre Mutter zur Hochzeit geschenkt bekommen hatte (Tausend Arten, deine Familie glücklich zu machen), eine brave Aufstellung ausgewogener Menüs abgeschrieben: Hähnchenschnitzel, Sommerkürbis-Gratin, Gartensalat, Apfelkompott.
»Es ist Idas Aufgabe«, sagte ihre Mutter mit plötzlicher Schärfe, »dir etwas zu machen. Dafür bezahle ich sie. Wenn sie ihre Pflicht nicht tut, werden wir uns jemand anders suchen müssen.«
»Sei still!«, schrie Harriet. Das alles war so unfair, dass es sie fassungslos machte.
»Dein Vater ist ständig hinter mir her wegen Ida. Er sagt, sie tut nicht genug im Haus. Ich weiß, dass du sie gern hast, aber...«
»Es ist nicht ihre Schuld!«
»... aber wenn Ida nicht tut, was sie soll, dann werde ich ein Wörtchen mit ihr reden müssen«, sagte ihre Mutter. »Morgen...«
Sie driftete mit ihrem Glas Pfefferminzeis hinaus. Harriet – betäubt und verdattert von der Wendung, die dieses Gespräch genommen hatte – legte die Stirn auf die Tischplatte.
Sie hörte, wie jemand in die Küche kam. Stumpf blickte sie auf und sah Allison in der Tür stehen.
»Du hättest das nicht sagen dürfen.«
»Lass mich in Ruhe!«
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Allison nahm ab. »Hallo?« Dann wurde ihr Gesicht ausdruckslos. Sie ließ
den Hörer fallen, sodass er an seiner Schnur hin- und herbaumelte.
»Für dich«, sagte sie zu Harriet und ging hinaus.
Kaum hatte sie hallo gesagt, sprudelte Hely los. »Harriet? Hör dir das an...«
»Kann ich bei euch zu Abend essen?«
»Nein«, sagte Hely nach einer verwirrten Pause. Das Abendessen war vorbei, aber er war viel zu aufgeregt gewesen, um zu essen. »Hör zu, Essie ist tatsächlich ausgerastet. Sie hat in der Küche ein paar Gläser zerschlagen und ist abgehauen, und mein Dad ist bei ihr zu Hause vorbeigefahren, und Essies Freund ist auf die Veranda rausgekommen, und sie haben einen Riesenkrach gekriegt, und Dad hat ihm gesagt, Essie braucht gar nicht wiederzukommen, sie ist gefeuert! Yeah! Aber
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