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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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glänzten im satten Licht der untergehenden Sonne lavendelblau.
    »Da oben«, sagte Harriet und streckte den Finger aus. »Wo das Dach flach ist, siehst du?«
    Über der schrägen Dachtraufe ragte eine kleine Gaube auf, und darin konnte man ein kleines Milchglasfenster erkennen, das am unteren Rand zwei Fingerbreit offen stand. Hely wollte eben fragen, wie sie da hinaufkommen wollte – das Fenster war gut fünf Meter hoch über dem Boden –, als sie sagte: »Wenn du’ne Räuberleiter machst, kann ich am Rohr raufklettern.«
    »Kommt nicht in Frage!«, sagte Hely. Das Rohr war fast durchgerostet.
    Es war ein sehr kleines Fenster, kaum mehr als dreißig Zentimeter breit. »Ich wette, das ist das Badezimmer«, sagte Harriet und deutete dann auf ein dunkles Fenster in halber Höhe. »Wozu gehört das da?«
    »Das sind die Mormonen. Hab nachgesehen.«
    »Und was ist da drin?«
    »’ne Treppe. Da ist ein Absatz mit einem schwarzen Brett und ein paar Postern.«
    »Vielleicht – hab ich dich!«, sagte Harriet triumphierend, nachdem sie sich auf den Arm geklatscht hatte und jetzt den blutig verschmierten Moskito in ihrer Handfläche betrachtete.
    »Vielleicht sind die beiden Etagen innen miteinander verbunden«, sagte sie zu Hely. »Du hast drinnen niemanden gesehen, oder?«
    »Hör zu, Harriet, die sind nicht zu Hause. Wenn sie zurückkommen und uns erwischen, sagen wir, es war’ne Mutprobe. Aber wir müssen uns beeilen, oder wir können die Sache vergessen.
Ich hab keine Lust, die ganze Nacht hier draußen zu hocken.«
    »Okay...« Sie holte tief Luft und rannte in den gerodeten Garten hinaus; Hely folgte ihr auf den Fersen. Sie trappelten die Treppe hinauf. Hely behielt die Straße im Auge, und Harriet legte die Hand an die Scheibe und spähte hinein: eine verlassene Treppe, auf der sich Klappstühle stapelten; triste, hellbraune Wände, beleuchtet von einem flackernden Lichtstrahl, der durch ein Fenster von der Straße hereinfiel. Weiter hinten stand ein Trinkwasserkühler, und an einer Tafel hingen Plakate (MIT FREMDEN REDEN. EINE LÖSUNG FÜR KINDER IN NOT.)
    Das Fenster war geschlossen und hatte kein Fliegengitter. Seite an Seite krümmten Hely und Harriet die Finger unter die Kante des metallenen Fensterrahmens und versuchten, ihn hochzuschieben, vergebens ...
    »Auto«, zischte Hely, und mit klopfendem Herzen pressten sie sich an die Hauswand, als das Auto vorüberrauschte.
    Als es weg war, lösten sie sich aus dem Schatten und versuchten es noch einmal. »Was ist das denn?«, flüsterte Hely. Er reckte sich auf die Zehenspitzen und untersuchte die Mitte des Fensters, wo die obere und die untere Scheibe glatt aneinander stießen.
    Harriet sah, was er meinte. Da war kein Riegel, und die Scheiben hatten gar keinen Platz, um aneinander vorbeizugleiten. Sie strich mit den Fingern über den Rahmen.
    »Hey«, sagte Hely plötzlich und winkte ihr, sie solle ihm helfen.
    Zusammen drückten sie den oberen Teil des Fensters nach innen. Etwas schnappte ein und knarrte, und dann schwenkte die untere Hälfte des Fensters auf einer horizontalen Achse ächzend nach außen. Hely warf einen letzten Blick auf die im Dunkel versinkende Straße – reckte den Daumen hoch, die Luft ist rein  –, und einen Augenblick später wanden sie sich nebeneinander durch das Fenster hinein.
    Hely hing kopfüber auf der Fensterkante, und seine Fingerspitzen berührten den Boden. Das grau gesprenkelte Linoleum
kam ihm entgegen, als wäre die Granit-Imitation die Oberfläche eines fremden Planeten, der ihm mit einer Million Meilen pro Stunde entgegenraste – und bamm stieß sein Kopf auf den Boden, und er purzelte hinein. Harriet rollte neben ihm herunter.
    Sie waren drin: auf dem Absatz einer altmodischen Treppe, nur drei Stufen hoch. Oben, am Ende der Treppe, war ein weiterer, lang gestreckter Absatz. Sie platzten fast vor Aufregung, rappelten sich auf und hasteten die Treppe hinauf, bemüht, nicht zu laut zu keuchen, und als sie oben um die Ecke bogen, wären sie beinahe ungebremst gegen eine schwere Tür geprallt, die mit einem dicken Vorhängeschloss gesichert war.
    Hier war auch noch ein Fenster, ein altmodisches Holzfenster mit Riegel und Fliegengitter. Hely ging hin, um es zu untersuchen, und während Harriet noch verzweifelt auf das Vorhängeschloss starrte, fing er plötzlich an, frenetisch zu gestikulieren und erregt die Zähne zu blecken: Unter diesem Fenster verlief die Dachtraufe, die geradewegs zu dem kleinen Fenster in

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