Der kleine Freund: Roman (German Edition)
verstaubter alter Säbelfechter, der gleich mit einem Satz über die Zeitungsstapel hinausspringen würde. Harriet strich im Vorbeigehen zärtlich mit der Hand darüber, und es war, als drücke der alte Schrank die Schultern zurück und mache sich zuvorkommend schmal, um sie durchzulassen.
Sie fand Ida Rhew im Wohnzimmer in ihrem Lieblingssessel, wo sie immer ihren Lunch aß, Knöpfe annähte oder Erbsen palte, während sie ihre Soap Operas verfolgte. Der Sessel selbst – plump, bequem, mit verschlissenem Tweedbezug und klumpiger Polsterung – hatte inzwischen Ähnlichkeit mit Ida angenommen, wie ein Hund zuweilen seinem Besitzer ähnelt; und wenn Harriet nachts nicht schlafen konnte, kam sie manchmal herunter, rollte sich hier zusammen, die Wange an den braunen Tweedstoff geschmiegt, und sang leise seltsame, alte, traurige Lieder, die niemand außer Ida sang, Lieder aus der Zeit, als Harriet ein Baby gewesen war, Lieder, so alt und geheimnisvoll wie die Zeit selbst, über Geister und gebrochene Herzen und Geliebte, die tot und für immer fort waren:
Sehnst du dich nicht nach der Mutter manchmal?
Sehnst du dich nicht nach der Mutter manchmal?
Die Blumen blühen in Ewigkeit,
Und nie geht dort unter die Sonne.
Allison lag mit gekreuzten Fußknöcheln vor dem Sessel auf dem Bauch. Sie und Ida schauten aus dem gegenüberliegenden Fenster. Die Sonne stand tief und orangegelb am Himmel, und die Fernsehantennen auf Mrs. Fountains Dach ragten durch das knisternde Nachmittagsgleißen.
Wie sehr sie Ida liebte! Die Macht dieses Gefühls machte sie schwindlig. Ohne eine Sekunde an ihre Schwester zu denken,
rannte sie auf Ida zu und schlang ihr leidenschaftlich die Arme um den Hals.
Ida schrank auf. »Du meine Güte«, sagte sie. »Wo kommst du denn her?«
Harriet schloss die Augen und schmiegte das Gesicht in die feuchte Wärme an Idas Hals, der nach Nelken roch und nach Tee und Holzrauch und nach noch etwas anderem Bittersüßen, Fedrigen, aber für Harriet war es ganz entschieden der Duft der Liebe.
Ida griff hinter sich und löste Harriets Arm von ihrem Nacken. »Willst du mich erwürgen?«, fragte sie. »Guck mal da. Wir beobachten grade den Vogel drüben auf dem Dach.«
Ohne sich umzudrehen, sagte Allison: »Er kommt jeden Tag.«
Harriet überschattete die Augen mit der Hand. Oben auf Mrs. Fountains Schornstein, säuberlich eingerahmt von zwei Ziegeln, stand ein Rotschulterstärling: adrett und soldatisch in seiner Haltung und mit festem, scharfem Blick. Ein glühender, scharlachroter Streifen saß wie eine militärische Epaulette auf jedem Flügel.
»Er ist’n Komischer«, sagte Ida, »und so hört er sich an.« Sie spitzte die Lippen und imitierte kundig den Ruf des Rotschulterstärlings: nicht das flüssige Pfeifen der Walddrossel, das im trockenen tsch tsch tsch des Grillengezirps versank und dann in überschwänglichem, schluchzendem Trillern wieder aufstieg; nicht den klaren Drei-Ton-Pfiff der Meise oder den rauen Schrei des Blauhähers, der wie das Knarren eines verrosteten Tors klang. Das hier war ein abrupter, schwirrender, ungewohnter Ruf, ein Warnschrei – kongarii! –, der in einem gedämpften, flötenden Ton erstickte.
Allison lachte laut. »Sieh doch!« Sie richtete sich auf den Knien auf, denn der Vogel merkte plötzlich auf und legte den glänzenden Kopf intelligent zur Seite. »Er hört dich!«
»Mach das noch mal!«, sagte Harriet. Ida machte nicht oft Vogelstimmen nach; dazu musste man sie schon in der richtigen Stimmung erwischen.
»Ja, Ida, bitte!«
Aber Ida lachte nur und schüttelte den Kopf. »Aber ihr kennt doch noch die alte Geschichte«, sagte sie, »wie er seine roten Flügel gekriegt hat?«
»Nein«, sagten Harriet und Allison wie aus einem Mund, obwohl sie sie kannten. Jetzt, wo sie älter waren, erzählte Ida ihnen immer seltener Geschichten, und das war schade, denn Idas Geschichten waren wild und merkwürdig und oft sehr beängstigend: Geschichten von ertrunkenen Kindern und Geistern im Wald, vom Bussard und seiner Jagdgesellschaft, von Waschbären mit Goldzähnen, die Babys in der Wiege bissen, und von verzauberten Schalen mit Milch, die sich nachts in Blut verwandelte...
»Na, es war einmal vor langer Zeit«, sagte Ida, »ein buckliger kleiner Mann, der war so wütend auf alles, dass er beschloss, die ganze Welt zu verbrennen. Da nimmt er sich’ne Fackel, so wütend, wie er ist, und geht runter zum großen Fluss, wo alle Tiere wohnen. Denn damals, in alten
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