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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Orchesterpodium hin und her riss und zerrte.
     
    » – Ich will es hinausschreien wie in biblischen Zeiten –«
    » – Ich will es hinausschreien wie Elia.«
    » – Es laut hinausschreien, um den Teufel zu ärgern –«
    » – Kommt her, Kinder, und ärgert den Teufel!«
     
    Der Platz war praktisch menschenleer. Auf der anderen Straßenseite standen zwei Teenager und kicherten voller Unbehagen. Mrs. Mireille Abbott stand in der Tür des Juweliergeschäfts, und drüben vor dem Haushaltswarenladen saß eine Familie im Auto bei heruntergedrehten Fenstern und schaute zu. Am kleinen Finger des Predigers (leicht abgespreizt vom bleistiftdünnen Mikrofon, als wäre es der Henkel einer Teetasse)
fing ein rubinfarbener Stein das Licht der untergehenden Sonne ein und blitzte tief-rot.
     
    » – Hier in diesen Letzten Tagen, in denen wir leben –«
    » – sind wir hier, um die Wahrheit dieser Bibel zu predigen  –«
    » – Wir predigen die Schrift wie in alten Zeiten –«
    » – Wir predigen sie, wie die Propheten es getan haben  –«
     
    Harriet sah den Pick-up (DIESE WELT IST NICHT MEINE HEIMAT!) und stellte enttäuscht fest, dass die Ladefläche leer war bis auf einen kleinen Verstärker mit Vinylgehäuse, der aussah wie ein billiger Aktenkoffer.
     
    »Oh, es ist lange her, dass ein paar von euch hier –«
    » – in der Bibel gelesen haben –«
    » – in die Kirche gegangen sind –«
    » – auf die Knie gefallen sind wie ein kleines Kind...«
     
    Mit jähem Schrecken erkannte Harriet, dass Eugene Ratliff sie anschaute.
    » – denn fleischliches Trachten ist TOD  –«
    » – rachsüchtiges Trachten ist TOD  –«
    » – die Leibeslust ist TOD... «
     
    »Fleisches«, sagte Harriet fast mechanisch.
    »Was?«, fragte Hely.
    »Fleischeslust. Nicht Leibeslust.«
     
    » – denn der Lohn der Sünde ist TOD  –«
    » – denn die Lügen des Teufels sind HÖLLE UND TOD... «
     
    Sie hatten einen Fehler gemacht, begriff Harriet, indem sie sich zu nah herangewagt hatten, aber jetzt war das nicht mehr zu ändern. Hely stand mit offenem Mund da und glotzte. Sie gab ihm einen Rippenstoß. »Komm«, flüsterte sie.
    »Was?« Hely wischte sich mit dem Unterarm über die klebrige Stirn.
    Harriet drehte die Augen zur Seite: Lass uns verschwinden. Wortlos wandten sie sich ab und schoben ihre Fahrräder höflich davon, bis sie um die Ecke verschwunden und außer Sicht waren.
    »Aber wo waren denn die Schlangen?«, fragte Hely quengelnd. »Hast du nicht gesagt, sie waren auf dem Laster?«
    »Sie müssen sie wieder ins Haus gebracht haben, nachdem Mr. Dial weg war.«
    »Dann komm«, sagte Hely, »fahren wir hin. Schnell, bevor sie fertig sind.«
    Sie sprangen auf die Räder und fuhren zum Mormonenhaus, so schnell sie konnten. Die Schatten wurden schärfer und komplexer. In den dunklen Wänden der Ligusterhecken entlang der Straße hatten Grillen und Frösche angefangen zu schrillen. Als sie schließlich, vor Anstrengung keuchend, in Sichtweite des Holzhauses waren, sahen sie, dass die Veranda dunkel und die Einfahrt leer war. Straßauf, straßab war nur eine einzige Menschenseele zu sehen: ein uralter Schwarzer mit scharf geschnittenen, glänzenden Wangenknochen, straffgesichtig und gelassen wie eine Mumie, der mit einer braunen Papiertüte unter dem Arm friedlich auf dem Gehweg entlangging.
    Hely und Harriet versteckten ihre Räder unter einem wuchernden Zimterlenbusch auf dem Mittelstreifen. Wachsam warteten sie hinter dem Busch, bis der alte Mann um die Ecke geschlurft und verschwunden war. Dann überquerten sie pfeilschnell die Straße und hockten sich unter die tief hängenden, ausladenden Äste eines Feigenbaums im Nachbargarten, denn im Garten des Holzhauses gab es keine Deckung, nicht einmal einen Busch, nur ein bisschen hässliches Schlangenbart-Gestrüpp, das um einen abgesägten Baumstumpf wucherte.
    »Wie kommen wir da rauf?«, fragte Harriet und beäugte das Regenrohr, das zum ersten Stock hinaufführte.
    »Warte.« Atemlos ob seines eigenen Wagemuts schoss Hely
aus der Deckung des Feigenbaums hervor, rannte holterdipolter die Treppe hinauf und kam ebenso schnell wieder herunter. Er flitzte quer durch den kahlen Garten und duckte sich zu Harriet unter den Feigenbaum. »Abgeschlossen«, sagte er mit dem verrückten Achselzucken einer Comicfigur.
    Zusammen betrachteten sie das Haus durch bebendes Laub. Die ihnen zugewandte Seite war dunkel. Die Fenster an der Straßenseite

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