Der kleine Freund: Roman (German Edition)
der Gaube führte.
Sie stemmten sich unter das Schiebefenster, bis sie rot im Gesicht waren, und es gelang ihnen, den Rahmen ungefähr drei Handbreit hochzuschieben. Harriet wand sich als Erste hinaus (Hely steuerte ihre Beine wie einen Pflug, bis sie ihm unbeabsichtigt einen Tritt versetzte und er fluchend zurücksprang). Die Dachpappe war heiß und klebrig und rau unter ihren Händen. Behutsam, ganz behutsam stand sie auf. Mit fest geschlossenen Augen hielt sie sich mit der linken Hand am Fensterrahmen fest und streckte Hely die rechte entgegen, als er neben ihr herausgekrochen kam.
Der Wind wurde kühler. Ein doppelter Kondensstreifen zog sich diagonal über den Himmel, dünne weiße Wasserskispuren auf einem riesigen See. Harriet – sie atmete schnell und wagte nicht hinunterzuschauen – roch das zarte Parfüm irgendeiner nachts duftenden Blüte tief unter ihr: Levkojen vielleicht, oder Ziertabak. Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute zum Himmel: Die Wolken waren riesenhaft, und ihre Bäuche waren mit einem strahlenden Rosa glasiert wie
bei den Wolken auf einem biblischen Gemälde. Sehr, sehr vorsichtig – den Rücken an die Wand geschmiegt und elektrisiert vor Aufregung – schoben sie sich um die steile Ecke und schauten unversehens in den Garten mit ihrem Feigenbaum.
Sie hakten die Fingerspitzen unter die Aluminiumverkleidung, die die Tageshitze gespeichert hatte und ein bisschen zu heiß zum Anfassen war, und rückten Stückchen für Stückchen an die Dachgaube heran. Harriet war als Erste da, und sie rutschte ein wenig weiter hinüber, um Hely Platz zu machen. Das Fenster war wirklich sehr klein, kaum größer als ein Schuhkarton, und der Spalt am unteren Rand war höchstens fünf Zentimeter breit. Vorsichtig mit den Händen übergreifend, verlagerten sie ihren Griff von der Verkleidung zum Fensterrahmen und zogen ihn zusammen hoch: zaghaft zunächst, falls das Ding unvermittelt hochsauste und sie rücklings hinunterfielen. Der Rahmen glitt mühelos zehn, zwölf Zentimeter hoch, aber dann blieb er stecken, obwohl sie daran zerrten, bis ihre Arme zitterten.
Harriet hatte feuchte Hände, und ihr Herz prallte wie ein Tennisball in ihrer Brust hin und her. Unten auf der Straße hörten sie ein Auto kommen.
Sie erstarrten. Der Wagen rauschte vorbei, ohne anzuhalten.
»Mann«, hörte sie Hely flüstern, »guck da bloß nicht runter.« Er war ein kleines Stück weit von ihr entfernt und berührte sie nicht, aber eine greifbare Corona von Feuchtigkeit umhüllte ihn wie ein Kraftfeld.
Sie drehte sich um. Im gespenstischen, lavendelblauen Zwielicht streckte er den Daumen hoch, schob Kopf und Unterarme durch das Fenster wie ein Schwimmer beim Brustschwimmen und fing an, sich hindurchzuwinden.
Es war eng, und an den Hüften blieb er stecken. Harriet klammerte sich mit der linken Hand an die Aluminiumverkleidung und stemmte mit der rechten das Fenster hoch, und sie wich so weit wie möglich zurück, um seinen hektisch um sich tretenden Füßen auszuweichen. Das Dach war nur schwach geneigt. Sie rutschte und wäre beinahe hinuntergefallen,
konnte sich im letzten Moment noch festhalten, aber ehe sie schlucken oder auch nur durchatmen konnte, plumpste Helys vordere Hälfte mit lautem Bums in die Wohnung, und nur seine Turnschuhe guckten noch aus dem Fenster. Einen Moment lang verharrte er wie betäubt, dann zog er sich ganz hinein. »Ja!«, hörte Harriet ihn sagen. Seine Stimme klang fern und frohlockend – die vertraute Ekstase des dunklen Dachbodens, wo sie auf Händen und Knien auf Forts aus Pappkarton zukrochen.
Sie schob den Kopf durch das Fenster. Im Dunkeln konnte sie ihn gerade noch erkennen: Er lag zusammengekrümmt auf dem Boden und hielt sich die Kniescheibe. Unbeholfen kniete er sich dann hin und rutschte heran, packte Harriet bei den Unterarmen und ließ sich zurückfallen. Harriet zog den Bauch ein und tat ihr Bestes, um sich durchzuwinden, sie strampelte mit den Füßen in der Luft wie Pu der Bär, der im Kaninchenloch festsaß.
Immer noch zappelnd rutschte sie hinein, teils auf Hely, teils auf einen klammen, schimmeligen Teppich, der roch, als habe er lange ganz unten in einem Boot gelegen. Als sie zur Seite rollte, stieß sie mit dem Kopf gegen die Wand. Es dröhnte hohl. Sie waren tatsächlich in einem Bad, aber in einem winzigen: Toilette, Waschbecken, keine Wanne, Spanplattenwände, mit einer Folie überzogen, die wie Kacheln aussah.
Hely war inzwischen auf den Beinen und zog
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