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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Fahrräder unberührt auf der Seite.
    Einen Moment lang stand sie wie erstarrt da. Dann kam sie zur Besinnung, duckte sich hinter den Busch und sank auf die Knie. Helys Fahrrad war teuer und neu, und er war in einem lächerlichen Maße eigen damit. Sie stützte den Kopf auf die Hände und starrte es an, und sie hatte Mühe, nicht in Panik zu geraten. Schließlich schob sie die Zweige auseinander und spähte über die Straße zum beleuchteten ersten Stock des Mormonenhauses.
    Die Stille dieses Hauses mit seinen versilberten Fenstern, die im Obergeschoss geisterhaft blinkten, machte ihr große
Angst, und unvermittelt brach der ganze Ernst der Lage über sie herein. Hely saß da oben in der Falle, da war sie sicher. Und sie brauchte Hilfe, aber sie hatte keine Zeit, welche zu holen, und sie war allein. Ein paar Augenblicke lang hockte sie benommen auf den Fersen, sah sich um und überlegte, was sie tun sollte. Da war das Badezimmerfenster, das immer noch offen stand, aber was sollte ihr das nützen? In »Ein Skandal in Böhmen« hatte Sherlock Holmes eine Rauchbombe durch das Fenster geworfen, um Irene Adler aus dem Haus zu holen  – eine hübsche Idee, aber Harriet hatte keine Rauchbombe, sie hatte überhaupt nichts außer Stöcken und Kieselsteinen.
    Sie dachte noch einen Moment lang nach, und dann lief sie im hohen, weiten Mondlicht über die Straße zurück zum Nachbarhaus und in den Garten, wo sie sich unter dem Feigenbaum versteckt hatten. Unter einem Laubdach von Pekanbäumen wucherte ein unordentliches Beet mit Schattenpflanzen (Buntwurz, Brennende Büsche), eingefasst von einem Ring aus weiß gestrichenen Steinbrocken.
    Harriet ließ sich auf die Knie fallen und versuchte, einen der Steine hochzuheben, aber sie waren zusammenzementiert. Im Haus kläffte gedämpft ein Hund durch das Tosen einer Klimaanlage, die heiße Luft aus einem Seitenfenster blies, schrill und unermüdlich. Wie ein Waschbär, der auf dem Grund eines Baches nach Fischen tastet, stieß sie die Hände in das schäumende Grün und suchte blind in dem wuchernden Gewirr herum, bis ihre Finger sich um einen glatten Zementbrocken schlossen. Mit beiden Händen hob sie ihn heraus. Der Hund kläffte immer noch. »Pancho!«, schrillte eine hässliche Yankee-Stimme, die Stimme einer alten Frau, rau wie Sandpapier. Sie hörte sich krank an. »Sei still!«
    Gebückt unter der Last des Steins rannte Harriet zurück in die Einfahrt des Holzhauses. Da standen zwei Trucks, sah sie jetzt, unten am Ende der Einfahrt. Der eine war aus Mississippi  – Alexandria County –, aber der andere hatte Nummernschilder aus Kentucky. So schwer der Zementbrocken auch war, Harriet blieb kurz stehen und prägte sich beide Autonummern
ein. Niemand hatte damals daran gedacht, sich Autonummern zu merken, als Robin ermordet worden war.
    Flink duckte sie sich hinter den ersten Pick-up, den aus Kentucky. Dann nahm sie den Zementbrocken (und jetzt sah sie, dass es nicht irgendein blöder Zementbrocken war, sondern ein Gartenschmuck in Form eines zusammengerollten Kätzchens) und schlug damit gegen den Scheinwerfer.
    Pop machte es, als die Birne zerplatzte, leicht und mit einem Geräusch wie ein Blitzlicht: pop pop. Dann lief sie weiter und zerschlug auch an Ratliffs Pick-up sämtliche Lichter, Scheinwerfer und Schlussleuchten. Sie hatte gute Lust, sie mit aller Kraft zu zerschmettern, aber sie hielt sich zurück; sie wollte die Nachbarn nicht alarmieren, und um sie zu zerschlagen, genügte ein kurzer, fester Stoß – als wollte man ein Ei aufschlagen  –, und schon fielen große dreieckige Glasscherben in den Kies.
    Sie suchte sich die größten und spitzesten Scherben von den Heckleuchten und bohrte sie ins Profil der Hinterreifen, so tief es ging, ohne sich die Hände zu zerschneiden. Dann ging sie um den Laster herum und tat das Gleiche mit den Vorderreifen. Mit klopfendem Herzen atmete sie zwei- oder dreimal tief durch. Dann richtete sie sich auf, stemmte das Zementkätzchen mit beiden Händen und ihrer ganzen Kraft so hoch sie konnte und schleuderte es durch die Frontscheibe des Pick-ups.
    Sie zersprang mit funkelndem Krachen. Ein Hagel von Glassplittern prasselte auf das Armaturenbrett. Auf der anderen Straßenseite strahlte eine Verandalampe auf, und dann ging nebenan das Licht an, aber die mondbeschienene Einfahrt, von glitzernden Glasscherben übersät, war leer, denn Harriet war schon halb die Treppe hinaufgelaufen.

    »Was war das?«
    Stille. Plötzlich und zu

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