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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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manchmal konnte er sogar ein kleines Stück weit in die Zukunft sehen. Aber Farish – jedenfalls bis zu seinem Unfall – Farish hatte tiefer in die Dinge hineinschauen können als jeder andere. Farish verstand, was Macht war, er sah verborgene Möglichkeiten; er begriff, wie Dinge funktionierten, egal, ob es sich um Maschinen handelte oder um die Tiere draußen in der Taxidermiewerkstatt. Aber wenn er sich heutzutage für etwas interessierte, musste er es aufschneiden und auf dem Boden verstreuen, um sich zu vergewissern, dass darin nichts Besonderes verborgen war.
    Gum mochte kein Radio, also fuhren sie schweigend in die Stadt. Jedes einzelne, simultan surrende Stück Metall im bronzenen Leib des Wagens war Danny bewusst.
    »Tja«, sagte sie friedfertig, »ich hab von Anfang an befürchtet, dass aus dem Truckerjob nichts werden würde.«
    Danny antwortete nicht. Die Truckerzeiten, damals vor seiner zweiten Verhaftung, waren die glücklichsten seines Lebens
gewesen. Er war viel herumgekommen, hatte abends Gitarre gespielt, in der unbestimmten Hoffnung, eine Band zu gründen, weil das Lastwagenfahren ihm im Vergleich mit dem Leben, das er sich ausgemalt hatte, ziemlich langweilig und gewöhnlich vorkam. Aber wenn er heute zurückschaute – es war nur ein paar Jahre her, aber es kam ihm vor wie ein ganzes Leben – dann waren es die Tage im Truck und nicht die Nächte in den Bars, woran er sich sehnsuchtsvoll erinnerte.
    Gum seufzte. »Ist wahrscheinlich gut so«, sagte sie mit ihrer dünnen, schmächtigen alten Stimme. »Du hättest sonst bis an dein Lebensende diesen alten Laster gefahren.«
    Besser, als hier zu Hause festzusitzen, dachte Danny. Seine Großmutter hatte ihm immer das Gefühl gegeben, dumm zu sein, weil ihm der Job gefiel. »Danny erwartet nicht viel vom Leben«, hatte sie überall erzählt, nachdem ihn die Spedition eingestellt hatte. »Es ist gut, wenn du nicht viel erwartest, Danny, denn dann wirst du auch nicht enttäuscht.« Das war die wichtigste Lektion im Leben, die sie ihren Enkeln eingetrichtert hatte: nicht zu viel von der Welt zu erwarten. Die Welt war ein mieser Ort, und ein Hund fraß den andern (auch einer ihrer Lieblingssprüche). Wenn einer ihrer Jungs zu viel erwartete oder sich über seinen Stand erhob, dann würden seine Hoffnungen zerschlagen und zertreten werden. Aber in Dannys Augen war das keine besonders großartige Lektion.
    »Was ich zu Ricky Lee gesagt hab.« Krusten und Geschwüre und atrophierte schwarze Venen auf den Händen, die sie selbstzufrieden im Schoß gefaltet hatte. »Als er das Basketball-Stipendium für Delta State bekommen hatte. Er hätte neben dem Studium und dem Basketballtraining abends noch arbeiten müssen, um die Bücher zu bezahlen. Ich hab zu ihm gesagt: ›Es geht mir gegen den Strich, wenn ich denke, dass du so viel schwerer arbeiten musst als alle andern, Ricky. Bloß damit ein Haufen reicher Kids, die mehr haben als du, rumstehen und sich über dich lustig machen können.‹«
    »Ja«, sagte Danny, als ihm klar wurde, dass seine Großmutter eine Reaktion von ihm erwartete. Ricky Lee hatte das Stipendium nicht angenommen. Gum und Farish hatten es fertig
gebracht, sich gemeinsam so sehr über ihn lustig zu machen, dass er es schließlich abgelehnt hatte. Und wo war Ricky jetzt? Im Gefängnis.
    »Das alles. College und Nachtschicht, bloß um Ball zu spielen.«
    Danny schwor sich, dass Gum morgen allein zum Gericht fahren würde.

    Als Harriet an diesem Morgen aufwachte, schaute sie eine Weile zur Decke, ehe ihr einfiel, wo sie war. Sie setzte sich auf – sie hatte schon wieder in ihren Kleidern geschlafen, und ihre Füße waren schmutzig – und ging nach unten.
    Ida Rhew war im Garten und hängte Wäsche auf. Harriet blieb stehen und schaute ihr zu. Sie dachte daran, unaufgefordert ein Bad zu nehmen, um Ida eine Freude zu machen, und beschloss dann, es nicht zu tun: Wenn sie ungewaschen und in den schmutzigen Kleidern von gestern erschien, würde Ida wenigstens sehen, wie lebensnotwendig es war, dass sie blieb. Summend, den Mund voller Wäscheklammern, bückte sich Ida über ihren Korb. Sie wirkte nicht bekümmert oder besorgt, nur gedankenverloren.
    »Bist du entlassen?«, fragte Harriet und beobachtete sie aufmerksam.
    Ida schrak zusammen; dann nahm sie die Wäscheklammern aus dem Mund. »Ja, guten Morgen, Harriet!«, sagte sie mit einer herzlichen, unpersönlichen Fröhlichkeit, bei der Harriet das Herz in die Hose sank. »Wie dreckig

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