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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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hinaufkommen können –, aber die rote Karre ließ sich mühelos die Rampe hinaufrollen, wenn Harriet von hinten schob. Zu beiden Seiten erhob sich eine Betonmauer, einen Meter hoch, hinter die man sich leicht ducken konnte, wenn unten auf der Straße ein Auto vorbeikäme, aber als Harriet sich aufrichtete, um Ausschau zu halten, lag die Straße in beiden Richtungen im Dunkeln. Weites Flachland erstreckte sich in der Finsternis, und weiße Lichter funkelten, wo die Stadt lag.
    Als sie auf dem höchsten Punkt angekommen waren, wehte ein stärkerer Wind: frisch, gefährlich, belebend. Straßenoberfläche und Begrenzungsmauer waren von aschfarbenem Staub überpudert. Hely wischte sich die kalkig weißen Hände an den Shorts ab, knipste die Taschenlampe an und ließ den Lichtstrahl umherhüpfen: über einen verkrusteten Blechtrog mit zerknülltem Abfallpapier, einen schief abgesägten Hohlblockstein, einen Stapel Zementsäcke und eine Glasflasche, in der noch ein Fingerbreit klebriger Orangensprudel war. Harriet klammerte sich an die Mauerkante und beugte sich über die dunkle Straße hinaus, als stehe sie an der Reling eines Ozeandampfers. Das Haar wehte ihr aus dem Gesicht, und sie sah weniger elend als am Nachmittag aus.
    In der Ferne hörten sie das lang gezogene, gespenstische Pfeifen eines Zuges. »Du liebe Güte«, sagte Harriet, »es ist doch noch nicht acht, oder?«
    Hely hatte weiche Knie. »Nein«, sagte er. Irgendwo in der singenden Dunkelheit hörte er auf den Gleisen das halsbrecherische Rattern der Güterwaggons, die auf die Bahnüberquerung am Highway 5 zurasten, lauter und lauter und lauter ...
    Die Zugsirene heulte, näher jetzt, und der Güterzug raste mit lautem Tosen vorbei, und sie standen da und schauten zu, wie er über die Gleise dahinrauschte, wo sie keine Viertelstunde zuvor ihre Karre geschoben hatten. Das Echo der warnenden Glocke vibrierte streng in der Ferne. Über dem Fluss, in den fetten Wolken im Osten zuckte lautlos ein Blitz, eine quecksilberblaue Ader.
    »Wir sollten öfters hierherkommen«, sagte Harriet. Sie schaute nicht zum Himmel, sondern auf den klebrig schwarzen Strom aus Asphalt, der durch den Tunnel unter ihren Füßen floss, und obwohl Hely hinter ihr stand, war es fast, als rechne sie gar nicht damit, dass er sie hörte – als beuge sie sich über den Überlauf eines Staudamms, wo Gischtschleier ihr ins Gesicht wehten, und als sei sie taub für alles außer dem Rauschen des Wassers.
    Die Schlange schlug in ihrer Kiste hin und her, und sie erschraken beide.
    »Okay«, sagte Harriet in einem albern zärtlichen Ton, »sei gaaanz ruhig...«
    Zusammen stemmten sie die Kiste aus der Karre und zwängten sie zwischen die Mauer und die Zementsäcke. Harriet kniete sich zwischen den herumliegenden zerdrückten Pappbechern und Zigarettenkippen der Bauarbeiter auf den Boden und versuchte, einen leeren Zementsack unter dem Stapel hervorzuziehen.
    »Wir müssen uns beeilen«, sagte Hely. Die Hitze lastete auf ihm wie eine kratzige, feuchte Wolldecke, und seine Nase juckte vom Zementstaub, vom Heu auf den Feldern und von der statisch aufgeladenen Luft.
    Harriet riss an dem leeren Sack, der zuerst klemmte und dann in der Nachtluft hin- und herpeitschte wie das gespenstische Banner einer Mondexpedition. Rasch drückte sie ihn herunter und duckte sich hinter die Betonwand. Hely ließ sich neben ihr auf die Knie fallen. Sie steckten die Köpfe zusammen und breiteten den Sack über die Kiste, und dann beschwerten sie die Ecken mit Zementbrocken, damit der Sack nicht fortwehen konnte.
    Hely hatte sich noch nie so weit entfernt von der bekannten Welt gefühlt. Gestrandet auf einem Wüstenplaneten, hinten am Horizont die spärlichen Lichter einer außerirdischen Siedlung: feindselig wahrscheinlich, im Widerstand gegen die Föderation.
    »Hier ist sie gut aufgehoben«, sagte Harriet und stand auf.
    »Hier kann sie bleiben«, sagte Hely mit seiner tiefen Space-Commander-Stimme.
    »Schlangen brauchen nicht jeden Tag zu fressen. Ich hoffe bloß, sie hat ordentlich was zu trinken bekommen, bevor wir sie geholt haben.«
    Ein Blitz zuckte über den Himmel, grell diesmal und mit scharfem Knattern. Fast gleichzeitig grollte der Donner.
    »Lass uns die lange Strecke zurückgehen.« Hely strich sich das Haar aus den Augen. »Über die Straße.«
    »Warum? Bis der Zug aus Chicago kommt, dauert’s noch ein Weilchen«, fügte sie hinzu, als er nicht antwortete.
    Hely erschrak über ihren eindringlichen

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