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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Mondlicht, dass Harriet nervös in dem Riedgras umherspähte, das hier kniehoch wuchs.
    »Was ist los?«, fragte Hely. »Was verloren?«
    »Mich hat was gestochen.«
    Hely wischte sich mit dem Unterarm über die verschwitzte Stirn. »Der Zug kommt erst in einer Stunde«, sagte er.
    Zusammen rackerten sie sich ab, um die Karre auf die Gleise zu heben. Bis zum Personenzug nach Chicago hatten sie tatsächlich noch eine Weile Zeit, aber sie wussten beide, dass manchmal unverhofft Güterzüge durchkamen. Lokale Güterzüge, die am Depot hielten, krochen so langsam vorbei, dass man sie praktisch zu Fuß überholen konnte, aber die Expressgüterzüge nach New Orleans rasten mit Gebrüll so schnell vorüber, dass Hely, wenn er mit seiner Mutter an der Schranke
am Highway 5 wartete, kaum die Aufschriften auf den Waggons lesen konnte.
    Jetzt, da sie das Dickicht hinter sich gelassen hatten, kamen sie schneller voran. Die Karre rumpelte explosionsartig über die Schwellen. Hely taten die Zähne weh. Sie machten eine Menge Krach, und obwohl niemand da war, der sie hätte hören können, hatte er Angst, dass sie bei dem Gepolter und den Fröschen einen herankommenden Güterzug erst wahrnehmen würden, wenn er über sie hinwegrollte. Beim Laufen hielt er den Blick auf das Gleis gerichtet, und er fragte sich eben, ob es nicht eine gute Idee wäre, langsamer zu laufen und doch die Taschenlampe anzuknipsen, als Harriet einen mächtigen Seufzer tat. Er blickte auf und atmete selbst erleichtert durch, als er in der Ferne rotes Neonlicht flackern sah.
    Am Rande des Highways kauerten sie sich in stachligem Unkraut neben der Karre nieder und spähten hinaus zum Bahnübergang mit der Tafel, auf der stand: STOPPEN, SCHAUEN, LAUSCHEN. Ein leichter Wind wehte ihnen ins Gesicht, frisch und kühl wie Regen. Wenn sie den Highway hinunter nach links schauten – nach Süden, nach Hause – konnten sie in der Ferne gerade noch das Texaco-Schild sehen und das rosa-grüne Neon von Jumbo’s Drive-in. Hier dagegen war der Abstand zwischen den Lichtern größer: keine Geschäfte, keine Verkehrsampeln, keine Parkplätze, nur Felder voller Unkraut und Wellblechschuppen.
    Ein Auto rauschte vorbei und ließ sie zusammenschrecken. Mit einem Blick in beide Richtungen vergewisserten sie sich, dass nicht noch eins kam, und dann überquerten sie hastig die Gleise und den stillen Highway. Die Karre holperte im Dunkeln hinter ihnen her, quer über eine Kuhweide zur County Line Road. Die Gegend so weit hier draußen hinter dem Country Club war trostlos: eingezäuntes Weideland im Wechsel mit endlosen, staubigen Flächen, von Bulldozern platt geschürft.
    Ein durchdringender Mistgestank wehte Hely ins Gesicht. Gleich darauf spürte er etwas eklig Glitschiges unter seinem Turnschuh. Er blieb stehen.
    »Was ist?«
    »Warte«, sagte er kläglich und schleifte seinen Schuh durch das Gras. Hier draußen brannten zwar keine Lichter mehr, aber der Mond schien so hell, dass sie genau sehen konnten, wo sie waren. Neben der County Line Road verlief ein isolierter Teerstreifen, der nach ungefähr zwanzig Metern abbrach – eine Parallelstraße, deren Bau eingestellt worden war, als die Highway Commission beschlossen hatte, die Interstate auf der anderen Seite des Houma verlaufen zu lassen, an Alexandria vorbei. Gras spross aus dem buckligen Asphalt, und vor ihnen spannte sich der fahle Bogen der aufgegebenen Überführung über die County Line Road.
    Sie hatten daran gedacht, die Schlange im Wald zu verstecken, aber ihr Erlebnis in Oak Lawn Estates war ihnen noch lebhaft in Erinnerung, und sie scheuten vor dem Gedanken zurück, nach Einbruch der Dunkelheit durch dichtes Unterholz zu trampeln, während sie sich mit einer fünfzig Pfund schweren Kiste abschleppten. Sie hatten auch erwogen, sie in oder bei einem der Lagerschuppen zu verstecken, aber selbst die stillgelegten, deren Fenster mit Sperrholzplatten vernagelt waren, waren durch Tafeln als »Privatbesitz« ausgewiesen.
    Die Betonbrücke war dagegen ungefährlich. Von der Natchez Street aus war sie über die Abkürzung leicht zu erreichen; sie überquerte für jedermann sichtbar die County Line Road, aber es führte kein Verkehr hinüber, und sie war weit genug von der Stadt entfernt, sodass Bauarbeiter, neugierige alte Leute oder andere Kinder keine Gefahr darstellten.
    Die Überführung war nicht stabil genug, um Autos zu tragen  – und selbst wenn sie es gewesen wäre, hätte man höchstens mit einem Jeep

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