Der kleine Freund: Roman (German Edition)
nicht gelang, Harriet aus der Reserve zu locken, schob er den Kopf zum Fenster herein und streckte ihr die Zunge heraus.
Ich bin unter Feinden, sagte Harriet sich. Sie musste standhaft bleiben und immer daran denken, warum sie hier war. Denn so sehr sie Camp de Selby auch hasste, im Augenblick war es der sicherste Ort für sie.
Dr. Vance stieß einen Pfiff aus, höhnisch, beleidigend. Widerwillig schaute Harriet zu ihm hinüber (es hatte keinen Sinn, sich weiter zu sträuben; er würde sie einfach immer weiter bedrängen), und er zog die Brauen schief wie ein trauriger Clown und schob die Unterlippe vor. »Eine Jammerparty ist
keine tolle Party«, sagte er. »Weißt du, warum nicht? Hmm? Weil man die alleine feiert .«
Mit glühendem Gesicht schaute Harriet an ihm vorbei aus dem Fenster. Schmale Kiefern. Ein Trupp Mädchen in Badeanzügen stakste auf Zehenspitzen vorbei, die Beine und Füße mit rotem Schlamm beschmiert. Die Macht der HighlandHäuptlinge ist gebrochen , dachte sie. Ich bin aus meinem Vaterland geflüchtet und in die Heide gezogen.
»... Probleme zu Hause?«, hörte sie Dr. Vance ziemlich scheinheilig fragen.
»Durchaus nicht. Sie ist nur... Harriet hat ein paar Rosinen im Kopf«, sagte Edie mit klarer, weithin vernehmbarer Stimme.
Eine scharfe, hässliche Erinnerung kam Harriet plötzlich in den Sinn: Dr. Vance, wie er sie zum Hula-Hoop-Wettbewerb auf die Bühne schob, und wie das ganze Camp sich angesichts ihrer Not ausschütten wollte vor Lachen.
»Na...« Dr. Vance kicherte. »Rosinen im Kopf sind eine Krankheit, gegen die wir hier ganz bestimmt ein Heilmittel haben!«
»Hast du gehört, Harriet? Harriet? « Edie seufzte. »Ich weiß nicht, was in sie gefahren ist.«
»Oh, einen oder zwei Scherzabende, einen oder zwei Kartoffelwettläufe, und sie wird schon warm werden.«
Die Scherzabende! Konfuse Erinnerungen erhoben sich mit Getöse: gestohlene Unterhosen, Wasser in ihrer Koje (seht doch, Harriet hat ins Bett gemacht!) , eine laute Mädchenstimme: Hier kannst du nicht sitzen!
Da kommt die gelehrte Miss Bücherwurm!
»Na hey !« Das war Dr. Vance’ Frau mit ihrer schrillen, ländlich angehauchten Stimme, die sich ihnen da in ihren Polyestershorts entgegenwiegte. Mrs. Vance (»Miss Patsy«, wie sie sich von den Campern gern nennen ließ) war für die Mädchen im Camp zuständig, und sie war genauso schlimm wie Dr. Vance, wenn auch anders: Sie betatschte einen, war aufdringlich und stellte zu viele persönliche Fragen (nach Jungen, Körperfunktionen und so weiter). Obwohl Miss Patsy ihr offizieller
Spitzname war, nannten die Mädchen sie nur Nursie: die Krankenschwester.
»Hey , Honey!« Und schon langte sie durch das Wagenfenster und kniff Harriet in den Oberarm. »Wie geht’s denn, Mädel?« Tatsch, tatsch. »Na, sieh mal an!«
»Guten Tag, Mrs. Vance«, sagte Edie. »Wie geht’s Ihnen?« Perverserweise mochte Edie Leute wie Mrs. Vance, denn sie gaben ihr genug Raum, um besonders hochnäsig und majestätisch zu sein.
»Na, dann kommt mal alle! Gehen wir rauf zum Büro! « Alles, was Mrs. Vance sagte, sagte sie mit unnatürlichem Pep. »Gott, wie bist du groß geworden, Mädel!«, wandte sie sich an Harriet. »Ich bin sicher, dass du dieses Jahr keine Boxkämpfe mehr anfangen wirst, nicht wahr?«
Und Dr. Vance warf Harriet einen eisigen Blick zu, der ihr nicht gefiel.
Im Krankenhaus spielte Farish das Szenario des Unfalls immer wieder durch, stellte Spekulationen an und Theorien auf, die ganze Nacht hindurch und bis in den nächsten Tag hinein, sodass seine Brüder es allmählich bis obenhin satt hatten, ihm zuzuhören. Stumpf und mit vor Erschöpfung geröteten Augen hingen sie im Warteraum der Intensivstation; halb hörten sie ihm zu, und halb verfolgten sie einen Zeichentrickfilm mit einem Hund, der ein Geheimnis aufklärte.
»Wenn du dich bewegst, muss sie dich beißen.« Farish sprach mit der Luft, als rede er mit der abwesenden Gum. »Du hättest dich nicht bewegen dürfen. Soll sie doch auf deinem Schoß liegen.«
Er war aufgestanden, fuhr sich mit der Hand durch die Haare und fing an, auf und ab zu gehen, sodass er den andern den Blick auf den Fernseher versperrte. »Farsh«, sagte Eugene laut und schlug die Beine andersherum übereinander, »Gum musste schließlich den Wagen fahren, oder nicht?«
»Aber sie brauchte ihn nicht in den Graben zu fahren«, sagte Danny.
Farish zog die Brauen zusammen. »Zehn Pferde hätte mich nicht aus dem Fahrersitz gebracht«, sagte
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