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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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diesen Ort verabscheute und wie jämmerlich ihr jede einzelne Minute zumute gewesen war? Oben links das Durchgangstor, dahinter die Hütte des Hauptbetreuers, halb versunken in bedrohlichem Schatten. Über der Tür hing ein selbst gemaltes Transparent aus Stoff mit einer Taube, auf dem in dicken Hippie-Lettern stand: FREUT EUCH!
    »Edie, bitte«, sagte Harriet hastig. »Ich hab’s mir anders überlegt. Lass uns wieder fahren.«
    Edie hielt das Lenkrad umklammert; sie fuhr herum und funkelte Harriet mit ihren hellen Augen, räuberisch und kalt, an – Augen, die Chester als »Scharfschützenaugen« bezeichnete, weil sie dazu geschaffen zu sein schienen, an einem Gewehrlauf entlangzuspähen. Harriets Augen (»kleiner Scharfschütze« nannte Chester sie manchmal) waren ebenso hell und eisig, und für Edie war es nicht angenehm, ihrem eigenen festen Blick en miniature zu begegnen. Sie entdeckte keinerlei Trauer oder Bangigkeit in der starren Miene ihrer Enkelin. Alles, was sie sah, war nur Unverschämtheit, noch dazu aggressive Unverschämtheit.
    »Sei nicht albern«, sagte sie gefühllos und schaute wieder auf die Straße, gerade noch rechtzeitig, um nicht in den Graben zu fahren. »Es wird dir hier gefallen. In einer Woche wirst du schreien und toben, weil du nicht nach Hause willst.«
    Harriet starrte sie ungläubig an.
    »Edie«, sagte sie, »dir würde es hier auch nicht gefallen. Nicht für eine Million Dollar würdest du bei diesen Leuten bleiben.«
    »› Oh, Edie!‹ « In gehässigem Falsett äffte Edie Harriets Stimme nach. »› Bring mich zurück! Bring mich zurück ins Camp! ‹ Das wirst du sagen, wenn es Zeit zum Abreisen ist.«
    Harriet war so gekränkt, dass sie nicht sprechen konnte. »Werde ich nicht«, brachte sie schließlich hervor. »Werde ich überhaupt nicht.«
    »Wirst du doch!«, sang Edie mit hoch erhobenem Kinn in dem selbstgefälligen, vergnügten Ton, den Harriet verabscheute. »Wirst du doch!«, sang sie noch lauter, ohne Harriet anzusehen.
    Plötzlich trötete eine Klarinette eine Schauder erregende Note, halb Eselsgeblöke, halb ländliches Hallo: Dr. Vance mit seiner Klarinette kündigte ihr Eintreffen an. Dr. Vance war kein richtiger Doktor – kein Arzt – sondern nur eine Art besserer christlicher Kapellmeister, ein Yankee mit dichten, buschigen Augenbrauen und riesigen Maultierzähnen. Er war ein großes Tier in der baptistischen Jugendarbeit, und es war Adelaide gewesen, die zutreffenderweise darauf hingewiesen hatte, dass er das wandelnde Ebenbild der berühmten Tenniel-Zeichnung des verrückten Hutmachers aus Alice im Wunderland war.
    »Willkommen, die Damen!«, krähte er und beugte sich zu Edies heruntergekurbeltem Fenster herein. »Lobet den Herrn!«
    »Hört, hört«, antwortete Edie, die für den predigenden Tonfall, der sich mitunter in Dr. Vance’ Reden schlich, wenig übrig hatte. »Hier ist unser kleiner Camper. Ich denke, wir checken sie ein, und dann mache ich mich wieder auf den Weg.«
    Dr. Vance drückte das Kinn herunter und beugte sich noch
weiter ins Fenster, um Harriet anzugrinsen. Sein Gesicht war rau und rot wie ein Stein. Mit kaltem Blick sah Harriet die Haare in seinen Nasenlöchern und die Flecken in den Zwischenräumen seiner Zähne.
    Dr. Vance wich theatralisch zurück, als habe ihn Harriets Blick versengt. »Hui!« Er hob den Arm, schnupperte an seiner Achselhöhle und sah Edie an. »Ich dachte schon, ich hätte heute Morgen vielleicht mein Deodorant vergessen.«
    Harriet starrte auf ihre Knie. Selbst wenn ich hier bleiben muss, sagte sie, brauche ich noch lange nicht so zu tun, als ob es mir gefällt. Dr. Vance wollte, dass seine Camper laut, extrovertiert und ausgelassen waren, und jeder, der sich nicht von selbst in diesen Campgeist fügen wollte, wurde von ihm gepiesackt und aufgezogen und gewaltsam genötigt, sich zu öffnen. Was ist los, kannst du keinen Spaß vertragen? Kannst du nicht über dich selbst lachen? Wenn ein Kind, ganz gleich, aus welchem Grund, zu still war, sorgte Dr. Vance dafür, dass es mit dem Wasserballon durchnässt wurde oder vor der ganzen Mannschaft wie ein Huhn tanzen oder in der Schlammgrube ein eingefettetes Schwein fangen oder einen lustigen Hut tragen musste.
    »Harriet!«, sagte Edie nach einer verlegenen Pause. Was immer sie sonst behaupten mochte: Dr. Vance bereitete ihr ebenfalls Unbehagen, da war sich Harriet ganz sicher.
    Dr. Vance blies einen säuerlichen Ton auf seiner Klarinette, und als es ihm auch damit

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