Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
Vom Netzwerk:
Vortag, obwohl sie nur ein paar Cent billiger waren als die frischen.
    »Mutters Onkel hatte eine kleine Pflanzung unten bei Covington  – Angevine hieß sie«, sagte Edie und zupfte mit ihrer freien Hand eine Serviette heraus, und auf eine Art, die man nur als königlich bezeichnen konnte – wie ein König, der es gewohnt war, mit den Fingern zu essen – nahm sie einen großen Bissen von ihrem Doughnut. »Libby fuhr immer mit uns dreien hinunter, mit dem alten Zug Nummer vier. Manchmal für Wochen! Miss Ollie wohnte in einem kleinen Haus auf der Rückseite, mit einem Holzherd und einem Tisch und Stühlen, und in diesem kleinen Häuschen haben wir lieber gespielt als irgendwo anders!«
    Harriets Beine klebten am Autositz. Gereizt rutschte sie hin und her und versuchte, es sich bequem zu machen. Sie saßen jetzt seit drei Stunden im Wagen, und die Sonne stand hoch und heiß am Himmel. Immer wieder zog Edie in Betracht, den Oldsmobile gegen einen Wagen mit Klimaanlage und funktionierendem Radio einzutauschen, aber immer überlegte sie es sich in letzter Minute anders, hauptsächlich weil es ihr insgeheim Vergnügen machte, zu sehen, wie Roy Dial die Hände rang und bekümmert umhertanzte. Es machte Mr. Dial verrückt, dass eine gut situierte alte Baptistendame in einem zwanzig Jahre alten Wagen durch die Stadt fuhr. Manchmal, wenn die neuen Modelle herauskamen, rollte er spät nachmittags bei Edie an und stellte ihr unaufgefordert einen »Tester« vor die Tür, meistens ein Spitzenmodell von Cadillac. »Fahren Sie ihn einfach mal ein paar Tage«, sagte er und spreizte die Hände. »Mal sehen, was Sie davon halten.« Edie spannte ihn grausam auf die Folter und tat, als habe sie sich auf den ersten Blick in das angebotene Fahrzeug verliebt, und dann – gerade als Mr. Dial den Vertrag aufsetzen wollte – gab sie es zurück
und hatte plötzlich Einwände gegen die Farbe oder die elektrischen Fensterheber, oder sie beklagte sich über irgendeinen mikroskopischen Mangel, ein Klappern am Armaturenbrett oder einen hakenden Verriegelungsknopf.
    »Auf den Nummernschildern von Mississippi steht immer noch ›Staat der Gastfreundschaft‹, aber meiner Meinung nach ist die wahre Gastfreundschaft dort in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts ausgestorben. Mein Urgroßvater war entschieden gegen den Bau des Alexandria Hotels, damals vor dem Krieg.« Edie hob die Stimme, um das lang gezogene, hartnäckige Hupen des Lastwagens hinter ihnen zu übertönen. »Er sagte, er selbst werde mit dem größten Vergnügen jeden respektablen Reisenden aufnehmen, der in die Stadt käme.«
    »Edie, der Mann hinter dir hupt dich an.«
    »Soll er.« Edie war wieder in ihr gemütliches Tempo verfallen.
    »Aber ich glaube, er möchte überholen.«
    »Es wird ihm nichts schaden, wenn er ein bisschen langsamer fährt. Wo will er denn so eilig hin mit seinen Balken?«
    Die Landschaft mit sandigen Lehmhügeln und endlosen Kiefernwäldern war so nackt und fremdartig, dass Harriet davon Magenschmerzen bekam. Alles, was sie sah, erinnerte sie daran, dass sie weit weg von zu Hause war. Sogar die Leute in den anderen Autos sahen anders aus: sonnengerötet, mit breiten, flachen Gesichtern, in Farmerkleidung.
    Sie kamen an einer trostlosen Ansammlung von Betrieben vorbei: Freelon Spraying Co., Tune’s AAA Transmission, New Dixie Stone and Gravel. Ein klappriger alter Schwarzer im Overall und mit einer orangegelben Jagdmütze auf dem Kopf humpelte mit einer braunen Einkaufstüte im Arm am Straßenrand entlang. Was würde Ida wohl denken, wenn sie zur Arbeit kam und sah, dass Harriet weg war? Jetzt ungefähr würde sie eintrudeln, und bei diesem Gedanken beschleunigte sich Harriets Atmung.
    Durchhängende Telefonkabel, Äcker mit Kohl und Mais, heruntergekommene Häuser mit Vorhöfen aus gestampftem Lehm. Harriet schmiegte die Stirn an die warme Scheibe. Vielleicht
würde Ida begreifen, wie gekränkt Harriet war; vielleicht würde sie begreifen, dass sie nicht jedes Mal, wenn sie sich über irgendetwas ärgerte, gleich damit drohen konnte, zu packen und zu gehen... Ein bebrillter Schwarzer mittleren Alters streute ein paar roten Hühnern Körner aus einem Fettkanister hin; feierlich hob er die Hand, als der Wagen vorüberfuhr, und Harriet winkte zurück, so eifrig, dass sie ein bisschen verlegen wurde.
    Sie machte sich auch Sorgen wegen Hely. Er war zwar anscheinend ziemlich sicher, dass sein Name nicht auf der Karre stand, aber sie dachte trotzdem nicht

Weitere Kostenlose Bücher