Der kleine Freund: Roman (German Edition)
durch den Wald war weich und klebrig. Harriet ließ den Kopf hängen. Das ging schnell, dachte sie. Jada war roh und tyrannisch, aber für eine Petze hatte Harriet sie nicht gehalten.
Aber wer weiß, vielleicht war gar nichts. Vielleicht wollte Dr. Vance sie nur zu einer »Sitzung« holen, wie er es nannte (dabei wiederholte er unzählige Bibelverse über »Gehorsam« und fragte dann, ob Harriet Jesus als ihren persönlichen Erlöser akzeptiere). Vielleicht wollte er sie auch über die Star Wars -Figur befragen (zwei Abende zuvor hatte er das ganze Camp zusammengetrommelt, Jungen und Mädchen, und sie eine Stunde lang angeschrien, weil einer von ihnen – behauptete er – eine Star Wars- Figur gestohlen habe, die Brantley gehörte, seinem grunzenden kleinen Sohn im Kindergartenalter).
Vielleicht hatte auch jemand für sie angerufen. Das Telefon stand in Dr. Vance’ Büro. Aber wer sollte sie anrufen? Hely?
Vielleicht die Polizei, dachte sie voller Unbehagen. Vielleicht haben sie die Karre gefunden. Sie versuchte, diesen Gedanken beiseite zu schieben.
Wachsam trat sie aus dem Wald. Vor dem Büro, neben dem Minibus und Dr. Vance’ Kombi, stand ein Wagen mit Händlernummernschild – von Dial Chevrolet. Bevor Harriet Zeit hatte, sich zu fragen, was das mit ihr zu tun hatte, öffnete sich die Tür mit der melodischen Kaskade eines Windspiels, und heraus kam Dr. Vance, hinter ihm Edie.
Harriet erstarrte vor Schrecken. Edie sah anders aus, ganz fahl und bedrückt, und einen Augenblick lang überlegte Harriet, ob es ein Irrtum war. Aber nein, es war wirklich Edie, sie trug nur eine alte Brille, an die Harriet nicht gewöhnt war, mit einem männlichen schwarzen Gestell, das für ihr Gesicht zu schwer war und sie blass aussehen ließ.
Dr. Vance sah Harriet und winkte mit beiden Armen, als winke er quer durch ein überfülltes Stadion. Harriet ging nur zögerlich weiter. Womöglich steckte sie in echten Schwierigkeiten, und zwar bis über beide Ohren – aber dann hatte auch Edie sie gesehen und lächelte. Und irgendwie (lag es vielleicht an der Brille?) war es die alte Edie, die prähistorische, die Edie aus der herzförmigen Schachtel, die gepfiffen und Robin unter einem geisterhaften Kodachrome-Himmel Basebälle zugeworfen hatte.
»Hottentott!«, rief sie.
Dr. Vance sah mit gefasstem Wohlwollen zu, wie Harriet, durch den alten, selten gebrauchten Kosenamen von überschäumender Liebe erfasst, über den Kiesplatz herangelaufen kam, und wie Edie sich (knapp und soldatisch) vorbeugte und ihr einen Kuss auf die Wange gab.
»Yes, Ma’am. Mächtig froh, die Grandma zu sehen!«, dröhnte Dr. Vance und wippte auf den Fersen. Er sprach mit überschwänglicher Wärme, aber zugleich klang es, als sei er in Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt.
»Harriet«, sagte Edie, »sind das alle deine Sachen?« Harriet erblickte ihren Koffer, ihren Ranzen und ihren Tennisschläger auf dem Kies neben Edie.
Nach einer kurzen verwirrten Pause und ehe ihr klar war, dass es ihre eigenen Habseligkeiten waren, die sie da sah, stellte Harriet fest: »Du hast eine neue Brille.«
»Eine alte Brille. Der Wagen ist neu.« Edie deutete mit dem Kopf auf das neue Auto, das neben Dr. Vance’ Wagen parkte. »Wenn du noch etwas in der Hütte hast, lauf gleich los, und hole es.«
»Wo ist denn dein Auto?«
»Nicht so wichtig. Beeil dich.«
Harriet – einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul – rannte davon. Sie war verdattert über diese unverhoffte Errettung, umso mehr, weil sie bereit gewesen war, sich Edie zu Füßen auf den Boden zu werfen und sie lauthals anzuflehen, sie mit nach Hause zu nehmen.
Abgesehen von ein paar Bastelarbeiten, die sie nicht haben wollte, brauchte sie nur ihre Badelatschen und ihre Handtücher zu holen. Jemand hatte eins von ihren Handtüchern geklaut, um damit schwimmen zu gehen, also raffte sie nur das eine an sich und lief zurück zu Dr. Vance’ Hütte.
Dr. Vance war dabei, ihre Sachen im Kofferraum von Edies neuem Wagen zu verstauen, und jetzt erst sah Harriet, dass Edie sich ein bisschen steif bewegte.
Vielleicht ist es wegen Ida, dachte Harriet plötzlich. Vielleicht hatte Ida beschlossen, doch nicht wegzugehen. Oder sie
hat beschlossen, dass sie mich noch einmal sehen will, ehe sie geht. Aber Harriet wusste, dass es in Wahrheit um etwas anderes gehen musste.
Edie beäugte sie misstrauisch. »Ich dachte, du hättest zwei Handtücher.«
»Nein, Ma’am.« Sie sah Spuren einer dunklen,
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