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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Zuschauerschar zusammengeströmt: naseweises Personal aus der Bankfiliale größtenteils, kichernde kleine, Kaugummi kauende Mädchen mit toupierten Haaren und braunem Lippenstift. Tat, die den Polizeiwagen angehalten hatte, indem sie mit ihrer gelben Handtasche gefuchtelt hatte, kletterte auf den Rücksitz des zertrümmerten Oldsmobile (obwohl die Hupe immer noch plärrte) und blieb dort mit Libby sitzen, während die Verhandlungen mit den Polizisten und dem anderen Fahrer geführt wurden, was eine Ewigkeit zu dauern schien. Der andere Fahrer war ein lebhafter und aufreizender kleiner alter Klugscheißer namens Lyle Pettit Rixey: sehr dünn, mit langen spitzen Schuhen und
einer Hakennase wie ein Springteufel, der beim Gehen zierlich die Knie anhob. Anscheinend war er sehr stolz auf den Umstand, dass er aus Attala County kam, und auch auf seinen Namen, den er gern und vollständig wiederholte. Immer wieder deutete er mit einem knochigen Nörgelfinger auf Edie und sagte: »Die Frau da«, und es klang, als sei Edie betrunken oder Alkoholikerin. »Diese Frau ist mir einfach vor den Kühler gekommen. Diese Frau sollte besser überhaupt kein Auto fahren.« Edie wandte sich hochmütig ab und kehrte ihm den Rücken zu, während sie die Fragen der Polizisten beantwortete.
    Der Unfall war ihre Schuld: Sie hatte die Vorfahrt missachtet, und sie konnte nichts Besseres tun, als diese Schuld würdevoll auf sich zu nehmen. Ihre Brille war zerbrochen, und da, wo sie in der flimmernden Hitze stand (»Diese Frau hat sich weiß Gott einen heißen Tag ausgesucht, um vor mir auf die Straße zu schießen«, beschwerte Mr. Rixey sich bei den Sanitätern), konnte sie von Libby und Tat kaum mehr als einen pinkfarbenen und gelben Fleck auf dem Rücksitz des kaputten Oldsmobile erkennen. Edie betupfte sich die Stirn mit einem feuchten Papiertaschentuch. In »Drangsal« hatten jedes Jahr zu Weihnachten Kleider in vier verschiedenen Farben unter dem Baum gelegen – Rosa für Libby, Blau für Edie, Gelb für Tat und Lavendel für die kleine Adelaide. Farbige Federläppchen, farbige Schleifen, farbiges Briefpapier... blonde Porzellanpuppen, identisch bis auf die Kleider, jede in einem anderen Pastellton ...
    »Haben Sie auf dem Highway gewendet«, fragte der Polizist, »oder haben Sie nicht?«
    »Das habe ich nicht. Ich habe hier auf dem Parkplatz gewendet.« Vom Highway her blitzte ein Rückspiegel störend am Rand ihres Gesichtsfelds, und gleichzeitig kam ihr unversehens eine unerklärliche Kindheitserinnerung in den Sinn: Tattys alte Blechpuppe in einem schmutzig gelben Kleid, wie sie mit gespreizten Beinen im Staub des Küchengartens von Haus Drangsal lag, unter den Feigenbäumen, wo die Hühner, wenn sie ausgerissen waren, manchmal zum Scharren hinkamen. Edie selbst hatte nie mit Puppen gespielt, hatte nie das
geringste Interesse an ihnen gehabt, aber jetzt sah sie die Blechpuppe mit eigenartiger Klarheit vor sich: den Körper aus braunem Stoff und die Nase, die in einem makabren, metallischen Silber glänzte, wo die Farbe abgerieben war. Wie viele Jahre hatte Tatty dieses verbeulte Ding mit seinem metallenen Totenschädel im Garten mit sich herumgeschleift, und wie viele Jahre war es her, dass Edie an dieses gespenstische kleine Gesicht mit der abgescheuerten Nase gedacht hatte?
    Der Polizist befragte Edie eine halbe Stunde lang. Seine monotone Stimme und seine verspiegelte Sonnenbrille erweckten ein bisschen das Gefühl, als werde sie von der Fliege aus dem gleichnamigen Horrorfilm mit Vincent Price verhört. Edie überschattete ihre Augen mit der Hand und war bemüht, sich auf seine Fragen zu konzentrieren, aber immer wieder wanderte ihr Blick zu den Autos, die auf dem sonnenbestrahlten Highway vorbeiblitzten, und sie konnte nur an Tattys grässliche alte Puppe mit der silbernen Nase denken. Wie um alles in der Welt hatte das Ding noch geheißen? Edie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern. Tatty hatte nicht richtig gesprochen, bis sie in die Schule gekommen war, und alle ihre Puppen hatten lächerliche Namen gehabt, Namen, die sie sich ausgedacht hatte, Namen wie Gryce und Lillium und Artemo...
    Die kleinen Mädchen aus der Bank fingen an, sich zu langweilen; sie betrachteten ihre Fingernägel, zwirbelten sich Haarsträhnen um die Finger und drifteten bald wieder hinein. Adelaide, der Edie erbittert die Schuld an der ganzen Sache gab (sie mit ihrem koffeinfreien Kaffee!), wirkte äußerst verärgert. Sie hielt deutlich Abstand

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