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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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dachte sie. Eher hungere ich mich zu Tode.
    Sie war jetzt seit zehn Tagen im Camp, und es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Sie hatte den Verdacht, dass Edie ein Wörtchen mit Dr. Vance und seiner Frau geredet hatte, denn die Betreuer hatten ein aufreizendes System entwickelt, speziell sie aufs Korn zu nehmen, aber ein Teil des Problems – das war Harriet sonnenklar, ohne dass sie daran etwas hätte ändern können – bestand darin, dass sie außerstande war, sich in die Gruppe einzufügen, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Aus Prinzip hatte sie es unterlassen, die »Gelöbniskarte« in ihrem Informationspaket zu unterschreiben. Dabei handelte es sich um eine Reihe von feierlichen Gelübden, zu denen die Camper genötigt wurden: keine »Erwachsenenfilme« anzuschauen und keine »Hard Rock« – oder »Acid Rock«-Musik zu hören, keinen Alkohol zu trinken, keinen Sex vor der Ehe zu haben, weder Marihuana noch Tabak zu rauchen und den Namen des Herrn nicht eitel auszusprechen. Es war nicht so, dass Harriet wirklich das Bedürfnis hatte, irgendetwas davon zu tun (außer vielleicht – nicht sehr oft – in Erwachsenenfilme zu gehen), aber sie war trotzdem entschlossen, diese Karte nicht zu unterschreiben.
    »Hey, Honey! Hast du nicht was vergessen?«, fragte Nursie Vance strahlend, und sie legte einen Arm um Harriet (die sich sofort versteifte) und drückte sie kameradschaftlich an sich.
    »Nein.«
    »Ich hab aber keine Gelöbniskarte von dir gekriegt.«
    Harriet schwieg.
    Nursie drückte noch einmal aufdringlich zu. »Weißt du, Honey, Gott gibt uns nur zwei Möglichkeiten! Entweder ist etwas
recht, oder es ist unrecht! Entweder bist du ein Vorkämpfer Christi, oder du bist es nicht!« Sie zog eine leere Gelöbniskarte aus der Tasche.
    »So, Harriet, ich möchte, dass du darüber betest. Und dann sollst du tun, was der Herr dir sagt.«
    Harriet starrte auf Nursies wulstige weiße Tennisschuhe hinunter.
    Nursie ergriff Harriets Hand. »Möchtest du, dass ich mit dir bete, Honey?«, fragte sie vertraulich, als biete sie ihr eine besonders köstliche Gefälligkeit an.
    »Nein.«
    »Oh, ich weiß, der Herr wird dich schon zur richtigen Entscheidung führen«, sagte Nursie mit augenzwinkernder Begeisterung. »Oh, ich weiß es genau!«
    Die Mädchen in Harriets Wigwam hatten sich schon vor Harriets Ankunft zu Paaren gefunden, und die meiste Zeit ignorierten sie sie. Zwar war sie einmal nachts wach geworden, weil ihre Hand in einer Schüssel mit warmem Wasser gelegen hatte und die anderen Mädchen tuschelnd und kichernd am Fußende ihrer Koje gestanden hatten (die Hand in warmes Wasser zu legen war ein Trick, von dem man annahm, dass er die Schlafende dazu bringen würde, ins Bett zu pinkeln), ansonsten schienen sie es aber nicht besonders auf Harriet abgesehen zu haben. Freilich war auch einmal Klarsichtfolie unter den Sitz der Latrine gespannt gewesen, und von draußen war gedämpftes Gelächter gekommen: »Hey, was machst du so lange da drinnen?« Ein Dutzend Mädchen hatten sich vor Lachen gebogen, als sie mit versteinerter Miene und durchnässten Shorts herausgekommen war – aber dieser Streich war doch sicher nicht speziell gegen sie gerichtet gewesen, da hatte sie doch sicher nur Pech gehabt? Immerhin, alle anderen hatten anscheinend Bescheid gewusst: Beth und Stephanie, Beverley und Michelle, Marcy und Darci und Sara Lynn, Kristle und Jada und Lee Ann und Devon und Dawn. Sie waren großenteils aus Tupelo und Columbus (die Mädchen aus Alexandria – nicht, dass sie ihr lieber gewesen wären – waren in den Wigwams Oriole und Goldfinch); sie waren alle größer als Harriet
und sahen älter aus – Mädchen eben, die Lippenstift mit Geschmack und abgeschnittene Jeans trugen und sich auf dem Wasserskisteg mit Kokosnussöl einrieben. Ihre Gesprächsthemen (die Bay City Rollers, die Osmonds, ein Junge namens Jay Jackson, der in ihre Schule ging) langweilten und nervten sie.
    Das alles hatte Harriet kommen sehen. Sie hatte die Gelöbniskarten kommen sehen. Sie hatte das öde Leben ohne Bücher kommen sehen, den Mannschaftssport (den sie verabscheute) und die Scherzabende und die Tiraden der Bibelstunden; sie hatte kommen sehen, dass sie an windstillen und glühend heißen Nachmittagen endlos in unbequemen Kanus sitzen und sich blöde Unterhaltungen darüber anhören würde, ob Dave ein guter Christ war, ob Wayne was mit Lee Ann gehabt hatte oder ob Jay Jackson trank.
    Das alles war schon schlimm genug. Aber

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