Der kleine Freund: Roman (German Edition)
verkrusteten Substanz an den Rändern von Edies Nasenlöchern. Schnupftabak? Chester schnupfte.
Ehe sie einsteigen konnte, kam Dr. Vance um den Wagen herum, schob sich seitwärts zwischen Harriet und die Tür, beugte sich herunter und reichte ihr die Hand.
»Gott hat Seinen eigenen Plan, Harriet«, sagte er, als verrate er ihr ein kleines Geheimnis. »Bedeutet das, dass er uns immer gefallen wird? Nein. Bedeutet es, dass wir ihn immer verstehen werden? Nein. Bedeutet es, dass wir darüber jammern und klagen sollen? Nein, wahrlich nicht!«
Harriets Wangen brannten vor Verlegenheit, während sie in Dr. Vance’ harte graue Augen starrte. In Nursies Diskussionsgruppe über »Dein Körper in der Entwicklung« war eine Menge von Gottes Plan geredet worden: wie all die Röhren und Hormone und erniedrigenden Ausscheidungen in den Filmen zu Gottes Plan für Mädchen gehörten.
»Und warum ist das so? Warum stellt Gott uns auf die Probe? Warum prüft er unsere Standhaftigkeit? Warum müssen wir über diese universalen Herausforderungen nachsinnen?« Dr. Vance schaute ihr forschend ins Gesicht. »Was lehren sie uns auf unserem christlichen Weg durchs Leben?«
Schweigen. Harriet war starr vor Abscheu und konnte nicht einmal ihre Hand wegziehen. Hoch in den Kiefern krächzte ein Blauhäher.
»Ein Teil der Herausforderung an uns, Harriet, besteht darin, zu akzeptieren, dass Sein Plan stets zum Besten ist. Und was heißt das: akzeptieren? Wir müssen uns Seinem Willen beugen! Freudig müssen wir uns beugen! Das ist die Herausforderung, der wir als Christen gegenüberstehen!«
Plötzlich bekam Harriet, deren Gesicht nur eine Handbreit von seinem entfernt war, große Angst. Sie konzentrierte sich
angestrengt auf ein paar winzige rötliche Bartstoppeln in der Kerbe seines Kinns, die dem Rasierapparat entgangen waren.
»Lasset uns beten«, sagte Dr. Vance unvermittelt und drückte ihre Hand. »Herr Jesus«, sagte er und presste Daumen und Zeigefinger in die fest geschlossenen Augen. »Welch ein Privileg ist es, heute hier vor dir stehen zu dürfen! Welch ein Segen, zu dir beten zu dürfen! Lass uns frohlocken, frohlocken in deiner Gegenwart!«
Wovon redet er da?, dachte Harriet benommen. Ihre Mückenstiche juckten, aber sie wagte nicht, sich zu kratzen. Mit halb geschlossenen Augen starrte sie auf ihre Füße.
»O Harr. Bitte sei bei Harriet und ihrer Familie in den Tagen, die kommen werden. Beschütze sie. Behüte, leite und führe sie. Hilf ihnen zu verstehen, o Harr«, sagte Dr. Vance, all seine Silben und Konsonanten sehr deutlich betonend, »dass alle diese Leiden und Prüfungen ein Teil ihres christlichen Weges auf Erden sind ...«
Wo ist Edie?, fragte sich Harriet und schloss die Augen. Im Auto? Dr. Vance’ Hand fühlte sich klebrig und unangenehm an. Wie peinlich wäre es, wenn Marcy und die anderen Mädchen aus der Hütte jetzt vorbeikämen und sähen, wie sie auf dem Parkplatz stand und ausgerechnet Dr. Vance’ Hand hielt.
»O Harr. Hilf ihnen, dass sie sich nicht von dir abwenden. Hilf ihnen, sich zu unterwerfen. Hilf ihnen, klaglos ihren Weg zu gehen. Hilf ihnen, nicht ungehorsam oder aufsässig zu werden, sondern dein Walten zu akzeptieren und den Bund mit dir zu halten...«
Uns unterwerfen? Wem denn? , dachte Harriet mit einem hässlichen kleinen Schrecken.
»... darum bitten wir dich im Namen Jesu Christi, AMEN«, sagte Dr. Vance so laut, dass Harriet erschrak. Sie sah sich um. Edie stand auf der Fahrerseite neben dem Wagen, eine Hand auf die Motorhaube gestützt. Hatte sie die ganze Zeit dagestanden, oder war sie erst zum Ende des Gebets herangekommen?
Nursie Vance war aus dem Nichts aufgetaucht. Sie stürzte sich auf Harriet und drückte sie an ihren erstickenden Busen.
»Der Herr liebt dich!«, sagte sie mit ihrer Zwinkerstimme. »Vergiss das nie!«
Sie gab Harriet einen Klaps auf den Hintern und wandte sich Edie zu, als wolle sie eine ganz normale kleine Unterhaltung anfangen. »Na, hey!« Aber Edie war in keiner so toleranten oder geselligen Stimmung, wie sie es gewesen war, als sie Harriet im Camp abgeliefert hatte. Sie nickte Nursie knapp zu, und das war alles.
Sie stiegen ein. Edie spähte einen Augenblick lang über den Rand ihrer Brille auf die ungewohnten Armaturen; dann legte sie den Gang ein und fuhr los. Die Vances kamen hinaus in die Mitte des Kiesplatzes, schlangen einander die Arme um die Taille und winkten, bis Edie um die Ecke bog.
Der neue Wagen hatte eine Klimaanlage und war
Weitere Kostenlose Bücher