Der kleine Freund: Roman (German Edition)
deshalb viel, viel leiser. Harriet betrachtete alles – das neue Radio, die elektrischen Fenster – und ließ sich voller Unbehagen auf ihrem Sitz nieder. In hermetisch verschlossener Kühle schnurrten sie durch den fließenden Laubschatten der Schotterstraße und glitten federnd über Schlaglöcher, die das Skelett des Oldsmobile hatten erzittern lassen. Erst als sie ganz am Ende der dunklen Straße angelangt waren und auf den sonnigen Highway bogen, wagte Harriet, einen verstohlenen Blick auf ihre Großmutter zu werfen.
Aber Edies Aufmerksamkeit schien auf etwas ganz anderes gerichtet zu sein. Sie fuhren und fuhren. Die Straße war breit und leer: keine Autos, ein wolkenloser Himmel, Bankette von rostrotem Staub, die am Horizont zu einem Punkt verschmolzen. Plötzlich räusperte sich Edie: ein lautes, verlegenes AHEM.
Erschrocken wandte Harriet den Blick vom Fenster und schaute Edie an, und diese sagte: »Es tut mir Leid, kleines Mädchen.«
Einen Moment lang wagte Harriet nicht, zu atmen. Alles war wie erstarrt: die Schatten, ihr Herz, die roten Zeiger der Uhr im Armaturenbrett. »Was ist denn?«, fragte sie.
Aber Edie wandte den Blick nicht von der Straße. Ihr Gesicht war versteinert.
Die Klimaanlage war zu hoch eingestellt. Harriet schlang die Hände um ihre nackten Arme. Mutter ist tot, dachte sie. Oder Allison. Oder Dad. Und im selben Atemzug wusste sie im tiefsten Herzen, dass sie mit alledem fertig werden würde. Laut fragte sie: »Was ist passiert?«
»Es ist Libby.«
In dem Aufruhr nach dem Unfall war niemand auf die Idee gekommen, dass einer der alten Damen etwas Ernsthaftes zugestoßen sein könnte. Abgesehen von ein paar Platzwunden und Blutergüssen und Edies Nasenbluten, das schlimmer aussah, als es war, waren alle mehr durchgeschüttelt als verletzt. Und die Sanitäter hatten sie mit aufreizender Gründlichkeit untersucht, ehe sie weiterziehen durften. »Nicht eine Schramme an dieser hier«, hatte der neunmalkluge Krankenwagenfahrer verkündet, der Libby – weißes Haar, Perlen, puderpinkfarbenes Kostüm – beim Aussteigen aus dem zerdrückten Wagen behilflich gewesen war.
Libby war wie betäubt gewesen. Die ganze Wucht des Zusammenstoßes hatte ihre Seite getroffen. Und obwohl sie immer wieder die Fingerspitzen an ihren Halsansatz drückte – behutsam, als wolle sie den Puls ertasten –, flatterte sie nur mit der Hand und sagte: »Oh, mach dir keine Sorgen um mich! «, als Edie gegen den Protest der Sanitäter aus dem Krankenwagen kletterte, um nach ihren Schwestern zu sehen.
Alle hatten einen steifen Nacken; Edies fühlte sich an, als hätte man ihn schnalzen lassen wie eine Bullenpeitsche. Adelaide ging neben dem Oldsmobile im Kreis herum und kniff sich immer wieder in die Ohren, um festzustellen, ob beide Ohrringe noch da waren, und rief ein ums andere Mal aus: »Es ist ein Wunder, dass wir nicht tot sind! Edith, es ist ein Wunder, dass du uns nicht alle umgebracht hast!«
Aber nachdem alle auf Gehirnerschütterung und Knochenbrüche untersucht worden waren (warum, dachte Edie, warum nur hatte sie nicht darauf bestanden, dass diese Idioten Libbys Blutdruck maßen? Sie war ausgebildete Krankenschwester,
sie verstand etwas von diesen Dingen!), hatten die Sanitäter am Ende nur Edie ins Krankenhaus bringen wollen. Sie hatte sich in eine Diskussion verwickeln lassen. Mit ihr sei alles in Ordnung; bloß die Rippen habe sie sich am Lenkrad angeknackst, und aus ihrer Zeit als Militärkrankenschwester wusste Edie, dass man bei Rippenbrüchen nicht das Geringste tun konnte, außer einen straffen Verband anzulegen und den Soldaten weiterzuschicken.
»Aber Sie haben einen Rippenbruch, Ma’am«, sagte der andere Sanitäter, nicht der Neunmalkluge, sondern der mit dem großen dicken Kürbiskopf.
»Ja, das ist mir bewusst!« Edie hatte ihn beinahe angeschrien.
»Aber Ma’am...« Aufdringliche Hände streckten sich ihr entgegen. »Sie sollten wirklich mit uns ins Krankenhaus fahren, Ma’am...«
»Wozu? Die werden nichts weiter tun als mir einen Verband anlegen und hundert Dollar kassieren! Für hundert Dollar verbinde ich mir die Rippen noch selber!«
»Die Unfallambulanz wird Sie sehr viel mehr als hundert Dollar kosten«, sagte der Neunmalkluge und stützte sich auf die Haube von Edies armem, verbeultem Auto (das Auto! das Auto! Jedes Mal, wen sie hinschaute, brach es ihr das Herz). »Die Röntgenaufnahmen alleine kommen schon auf fünfundsiebzig.«
Inzwischen war eine kleine
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