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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Morgen immer noch schwindlig war. Ein Brief von Hely war gekommen. Als sie ihn aufmachte, sah sie zu ihrem Schrecken einen Ausschnitt aus dem Alexandria Eagle mit der Schlagzeile: EXOTISCHES REPTIL ATTACKIERT FRAU.
    Ein Brief war auch dabei, auf blau liniertem Schulheftpapier. »Uuuh, ist der von deinem Freund?« Dawn riss ihr den Brief aus der Hand. »›Hey Harriet‹«, las sie allen laut vor, »›wie läuft’s so?‹«
    Der Zeitungsausschnitt flatterte zu Boden. Mit zitternden Händen hob ihn Harriet auf, knüllte ihn zusammen und steckte ihn in die Tasche.
    »›Dachte mir, das hier möchtest du sehen. Guck’s dir an ...‹ ‹ Guck dir was an? Was denn?«, fragte Dawn.
    Harriet hatte die Hand in der Tasche und riss das Zeitungspapier mit den Fingernägeln in Fetzen.
    »Sie hat’s in der Tasche«, sagte Jada. »Sie hat da was in die Tasche gesteckt.«
    »Hol’s raus! Hol’s raus!«
    Genussvoll stürzte Jada sich auf Harriet, und Harriet schlug ihr ins Gesicht.
    Jada kreischte. »O mein Gott! Sie hat mich gekratzt! Du hast mich am Augenlid gekratzt, du kleines Stück Scheiße!«
    »Hey, Leute!«, zischte jemand. »Mel kann euch hören.« Melanie war die Betreuerin ihres Wigwams.
    »Ich blute!«, heulte Jada. »Sie wollte mir das Auge auskratzen! Fuck!«
    Dawn war wie vom Donner gerührt, und ihr Lipgloss-überzuckerter Mund stand offen. Harriet nutzte das Durcheinander, um ihr Helys Brief aus der Hand zu reißen und ebenfalls in die Tasche zu stopfen.
    »Seht doch!« Jada streckte die Hand aus. An ihren Fingerspitzen und auf ihrem Augenlid war Blut, nicht viel, aber doch ein bisschen. »Seht doch, was sie mit mir gemacht hat!«
    »Seid still«, rief eine schrille Stimme, »sonst kriegen wir einen Minuspunkt.«
    »Wenn wir noch einen kriegen«, sagte jemand anders entnervt, »dürfen wir mit den Jungs keine Marshmallows rösten.«
    »Ja, das stimmt. Haltet die Klappe.«
    Jada kam mit dramatisch geballten Fäusten auf Harriet zu. »Ich rate dir, sieh dich vor, Mädchen«, sagte sie. »Ich rate dir ...«
    »Seid still! Mel kommt!«
    Dann hatte die Glocke zur Kapelle geläutet. Zach und seine dumme Bauchrednerpuppe waren Harriets Rettung gewesen, vorläufig jedenfalls. Wenn Jada sie verpetzen sollte, würde sie Ärger bekommen, aber das war nichts Neues. Ärger zu bekommen, weil sie sich mit jemandem geschlagen hatte, daran war Harriet gewöhnt.
    Was ihr Sorgen machte, war der Zeitungsausschnitt. Es war unglaublich dumm von Hely, ihn ihr zu schicken. Wenigstens hatte niemand ihn gesehen, das war die Hauptsache. Außer der Schlagzeile hatte sie selbst kaum etwas gesehen; sie hatte ihn zusammen mit Helys Brief in der Tasche gründlich zerrissen und die Fetzen durcheinander geknetet.
    Irgendetwas, merkte sie plötzlich, hatte sich auf der Lichtung
verändert. Zach hatte zu reden aufgehört, und die Mädchen waren plötzlich alle sehr still und ruhig. Panik durchrieselte Harriet. Sie erwartete, dass alle Köpfe sich gleichzeitig nach ihr umdrehten und sie anstarrten, aber dann räusperte sich Zach, und Harriet begriff, als erwache sie aus einem Traum, dass das Schweigen gar nicht sie betraf, sondern dass jetzt das Gebet kam. Hastig schloss sie die Augen und senkte den Kopf.

    Als das Gebet vorüber war und die Mädchen sich streckten und kicherten und zu plaudernden Gruppen zusammenfanden (Jada und Dawn und Darci redeten offensichtlich über Harriet und starrten feindselig zu ihr herüber), kam Mel (mit grünem Augenschirm und einem Streifen weißer Zinksalbe auf der Nase) zu Harriet. »Vergiss das Schwimmen. Die Vances wollen dich sprechen.«
    Harriet bemühte sich, ihr Erschrecken zu verbergen.
    »Oben im Büro«, sagte Mel und fuhr sich mit der Zunge über ihre Zahnspange. Über Harriets Kopf hinwegspähend, hielt sie ohne Zweifel Ausschau nach dem wunderbaren Zach und befürchtete, er könnte ins Jungencamp zurückgehen, ohne mit ihr zu sprechen.
    Harriet nickte und versuchte, ein gleichgültiges Gesicht zu machen. Was konnten sie ihr schon tun? Sie zwingen, den ganzen Tag allein im Wigwam zu sitzen?
    »Hey«, rief Mel ihr nach – sie hatte Zach entdeckt und schlängelte sich mit erhobener Hand zwischen den Mädchen hindurch auf ihn zu –, »wenn die Vances vor der Bibelstunde mit dir fertig sind, gehst du auf den Tennisplatz und übst mit der Zehn-Uhr-Gruppe, okay?«
    Die Dunkelheit unter den Kiefern war eine willkommene Erholung nach der sonnengebleichten Helligkeit in der »Kapelle«, und der Pfad

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