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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Harriet würde nächstes Jahr in die achte Klasse kommen, und was sie nicht hatte kommen sehen, war die entsetzliche neue Würdelosigkeit, dass sie – zum ersten Mal im Leben – als »Teen Girl« klassifiziert wurde: eine Kreatur ohne Verstand, bestehend aus lauter Auswölbungen und Absonderungen, wenn sie den Schriften glauben konnte, die man ihr gegeben hatte. Was sie nicht hatte kommen sehen, waren die munteren, demütigenden Filmchen mit herabwürdigenden medizinischen Informationen; was sie nicht hatte kommen sehen, waren die obligatorischen »Quasselrunden«, in denen die Mädchen nicht nur genötigt wurden, persönliche Fragen zu stellen – von denen einige in Harriets Augen unverhohlen pornographisch waren –, sondern sie auch noch zu beantworten.
    Bei diesen Diskussionen glühte Harriet vor Hass und Scham. Sie empfand es als erniedrigend, dass Nursie stillvergnügt annahm, sie – Harriet – sei genauso wie diese dummen Mädchen aus Tupelo, die nichts anderes im Kopf hatten als Achselgeruch, Fortpflanzungsorgane und ihre Dates mit Jungen. Der Dunst von Deodorant und Hygienespray in den Umkleideräumen, die stachlige Beinbehaarung, der fettige Lippenstift, all das war besudelt vom glitschigen Öl der »Pubertät«, der Obszönität – bis hinunter zum schweißigen Glanz der
Hot Dogs. Schlimmer noch: Harriet kam sich vor, als sei eine der abscheulichen durchsichtigen Abbildungen aus »Dein Körper in der Entwicklung« – nichts als Gebärmutter, Eierstöcke und Brustdrüsen – auf ihren eigenen stummen Körper projiziert, und als sehe jeder, der sie anschaute, selbst wenn sie angezogen war, nichts als Organe und Genitalien und Haare an unschicklichen Stellen. Zu wissen, dass es unausweichlich war (»nur ein natürlicher Teil des Heranwachsens!« ), war nicht besser, als zu wissen, dass sie eines Tages sterben würde. Der Tod war zumindest würdevoll: das Ende von Unehre und Trauer.
    Gut, ein paar der Mädchen in ihrer Hütte, vor allem Kristle und Marcy, hatten einen annehmbaren Sinn für Humor. Aber die fraulicheren unter ihren Hüttenkameradinnen (Lee Ann, Darci, Jada, Dawn) waren derb und abstoßend. Harriet war angewidert von dem Eifer, mit dem sie sich über grobe biologische Kategorien identifizierten, zum Beispiel, wer »Titten« hatte und wer nicht. Sie redeten von »Knutschorgien« und von ihren »Tagen«, und sie sprachen ein erbärmliches Englisch. Und sie hatten eine absolut schweinische Fantasie. Hier, hatte Harriet gesagt, als Ann Lee versuchte, ihre Rettungsweste anzuziehen, das schiebst du hier hinein, so...
    Alle Mädchen, einschließlich Ann Lee, brachen in Gelächter aus. Was machst du damit, Harriet?
    Man schiebt es hinein, sagte Harriet eisig. Hineinschieben ist ein tadelloses Wort...
    O yeah? Idiotisches Gekicher – sie waren Schweine, sie alle, die ganze schwitzende, menstruierende, jungsgeile Bande mit ihren Schamhaaren und ihren Transpirationsproblemen, wie sie einander zuzwinkerten und gegen die Knöchel traten. Sag das doch noch mal, Harriet! Wie geht das? Was soll sie tun?
    Zach und Zig waren inzwischen beim Thema Biertrinken. »Aber jetzt sag mal, Zig: Würdest du etwas trinken, das schlecht schmeckt? Und außerdem schlecht für dich ist?«
    »Puh! Nie im Leben! Aber es gibt immer ein paar wirklich dumme Kids, die glauben, Bier trinken ist cool, Mann!« Zach machte das Peace-Zeichen. Nervöses Gelächter.
    Harriet, die vom langen Sitzen in der Sonne Kopfschmerzen hatte, betrachtete blinzelnd eine Ansammlung von Moskitostichen an ihrem Arm. Nach dieser Versammlung (die Gott sei Dank in zehn Minuten vorbei wäre) kamen fünfundvierzig Minuten Schwimmen, dann ein Bibelquiz und dann Lunch.
    Schwimmen war die einzige Beschäftigung, die Harriet gefiel und auf die sie sich freute. Allein mit ihrem Herzschlag pflügte sie geschmeidig durch den dunklen, traumlosen See, durch die fahlen, flackernden Sonnenstrahlen, die das Düster durchbohrten. Dicht unter der Oberfläche war das Wasser warm wie Badewasser, aber wenn sie tiefer schwamm, berührten Lanzen von kaltem Quellwasser ihr Gesicht, und pudrige Dunkelheit wälzte sich wie Wolken von grünem Rauch aus dem plüschigen Morast am Grund herauf und wirbelte bei jedem Schwimmzug, jedem Beinstoß, in Spiralen auseinander.
    Die Mädchen durften nur zweimal wöchentlich schwimmen: dienstags und donnerstags. Und sie war besonders froh, dass heute Donnerstag war, weil ihr nach der unangenehmen Überraschung in der Postrunde am

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