Der kleine Freund: Roman (German Edition)
zum Ort des Geschehens, als gehöre sie nicht dazu, und sprach mit einer neugierigen Chorfreundin, Mrs. Cartrett, die angehalten hatte, um zu sehen, was los war. Irgendwann war sie mit Mrs. Cartrett in den Wagen gesprungen und weggefahren, ohne Edie eines Wortes zu würdigen. »Wir fahren zu McDonald’s auf einen Hot Dog!«, hatte sie Tat und der armen Libby zugerufen. Zu McDonald’s! Und als der insektengesichtige Polizist Edie schließlich erlaubt hatte weiterzufahren, war ihr armes altes Auto zu allem
Überfluss natürlich nicht mehr angesprungen, und sie war gezwungen gewesen, die Schultern durchzudrücken und noch einmal in die grässliche, kalte Bankfiliale zu gehen, zurück zu den frechen kleinen Kassiererinnen, und sie zu fragen, ob sie noch einmal telefonieren dürfe. Und die ganze Zeit hatten Libby und Tat klaglos auf dem Rücksitz des Oldsmobile in der schrecklichen Hitze gesessen.
Das Taxi hatte nicht lange auf sich warten lassen. Edie stand vorn am Schreibtisch des Filialleiters und telefonierte mit der Werkstatt, und durch das große Fenster sah sie, wie die beiden zum Taxi gingen: Arm in Arm staksten sie in ihren Sonntagsschuhen über den Kies. Sie klopfte an die Scheibe, woraufhin Tat sich im gleißenden Sonnenschein halb umdrehte und den Arm hob, und ganz plötzlich fiel Edie der Name ihrer alten Puppe wieder ein, so plötzlich, dass sie laut auflachte. »Was?«, fragte der Mann von der Werkstatt, und der Filialleiter mit seinen Glotzaugen hinter dicken Brillengläsern schaute zu ihr auf, als wäre sie verrückt geworden, aber Edie kümmerte das nicht. Lycobus. Natürlich. So hatte die Blechpuppe geheißen. Lycobus, die ungezogen war und ihrer Mutter freche Widerworte gab. Lycobus, die Adelaides Puppen zu einer Teeparty einlud und ihnen dann nur Wasser und Radieschen servierte.
Als der Abschleppwagen schließlich kam, ließ Edie sich von dem Fahrer nach Hause bringen. Es war das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, dass sie in einem Lastwagen saß; die Kabine war hoch, und mit ihren angeknacksten Rippen hineinzuklettern war kein Spaß gewesen. Aber, wie der Richter seinen Töchtern immer wieder gern in Erinnerung gerufen hatte, ein Bettler konnte nicht wählerisch sein.
Als sie nach Hause kam, war es fast ein Uhr. Edie hängte ihre Kleider auf (erst als sie sich auszog, fiel ihr ein, dass das Gepäck noch im Kofferraum des Oldsmobile war) und nahm ein kühles Bad; dann setzte sie sich in BH und Miederhose auf die Bettkante, hielt die Luft an und wickelte sich einen straffen Verband um die Rippen, so gut sie konnte. Dann trank sie ein Glas Wasser und nahm eine Empirin mit Kodein, die von irgendeiner
Zahnbehandlung übrig geblieben war, zog sich ihren Kimono an und legte sich auf das Bett.
Geraume Zeit später weckte sie das Telefon. Einen Moment lang glaubte sie, das dünne Stimmchen am anderen Ende sei die Mutter der Kinder. »Charlotte?«, kläffte sie, und als niemand antwortete: »Wer ist da, bitte?«
»Allison. Ich bin hier bei Libby. Sie... sie ist irgendwie aufgebracht.«
»Kann ich ihr nicht verdenken«. Der Schmerz, der Edie beim jähen Aufrichten durchzuckte, kam ganz unverhofft, und sie sog zischend die Luft zwischen den Zähnen ein. »Im Augenblick sollte sie sich nicht um Besuch kümmern müssen. Du solltest ihr nicht zur Last fallen, Allison.«
»Aber sie macht überhaupt keinen erschöpften Eindruck. Sie – sie sagt, sie muss Rote Bete einlegen.«
»Rote Bete einlegen!« Edie schnaubte. »Ich wäre äußerst aufgebracht, wenn ich heute Nachmittag Rote Bete einlegen sollte.«
»Aber sie sagt...«
»Lauf nach Hause, und lass Libby ihre Ruhe«, sagte Edie. Sie war ein bisschen benommen von der Schmerztablette, und weil sie Angst hatte, über den Unfall ausgefragt zu werden (der Polizist hatte die Vermutung geäußert, dass es an ihren Augen gelegen haben könnte; es war sogar von einem Test die Rede gewesen und von Führerscheinentzug), war ihr sehr daran gelegen, dieses Gspräch bald zu beenden.
Im Hintergrund war gereiztes Gemurmel zu hören.
»Was war das?«
»Sie ist beunruhigt. Sie hat gesagt, ich soll dich anrufen, Edie, ich weiß nicht, was ich machen soll, bitte komm rüber, und sieh ...«
»Wozu um alles in der Welt? Gib sie mir mal.«
»Sie ist nebenan.« Unverständliches Gemurmel, dann wieder Allisons Stimme: »Sie sagt, sie muss in die Stadt, und sie weiß nicht, wo ihre Schuhe und Strümpfe sind.«
»Sag ihr, sie soll sich keine Sorgen machen. Die Koffer
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