Der kleine Freund: Roman (German Edition)
sind noch im Wagen. Hat sie ihren Mittagsschlaf gehabt?«
Wiederum Gemurmel – genug, um Edies Geduld auf eine harte Probe zu stellen. »Hallo!«, rief sie laut.
»Sie sagt, es geht ihr gut, Edie, aber ...«
(Libby sagte immer, es geht ihr gut. Als Libby Scharlach hatte, sagte sie, es geht ihrgut.)
»... aber sie will sich nicht hinsetzen.« Allisons Stimme kam wie aus weiter Ferne, als halte sie den Hörer nicht richtig vor den Mund. »Sie steht im Wohnzimmer...«
Obwohl Allison weiter sprach und Edie weiter zuhörte, war der Satz zu Ende, und ein neuer hatte begonnen, ehe Edie ganz plötzlich klar wurde, dass sie kein Wort verstanden hatte.
»Entschuldige«, sagte sie kurz angebunden, »aber du musst lauter sprechen.« Aber bevor sie Allison wegen ihres Gemurmels rügen konnte, gab es plötzlich Lärm an der Haustür: tap tap tap tap tap, eine Serie von forschen kleinen Klopfern. Edie schlang ihren Kimono um sich, band die Schärpe zu und spähte durch den Flur. Da stand Roy Dial und grinste wie ein Opossum mit seinen kleinen grauen Sägezähnen. Er winkte ihr fröhlich mit den Fingern.
Hastig zog Edie den Kopf zurück ins Schlafzimmer. Dieser Geier, dachte sie. Am Liebsten würde ich ihn erschieweißen. Er schien sich zu freuen wie ein Schneekönig. Allison redete immer noch.
»Hör mal, ich muss jetzt auflegen«, sagte sie knapp. »Draußen steht Besuch, und ich bin nicht angezogen.«
»Sie sagt, sie muss eine Braut am Bahnhof abholen«, antwortete Allison klar und deutlich.
Edie, die nicht gern zugab, dass sie schlecht hörte und deshalb gewohnt war, über Ungereimtheiten im Gespräch hinwegzugaloppieren, holte tief Luft (sodass ihr die Rippen wehtaten) und sagte: »Libby soll sich hinlegen. Wenn sie möchte, komme ich vorbei, messe ihren Blutdruck und gebe ihr ein Beruhigungsmittel, sobald ich...«
Tap tap tap tap tap!
»Sobald ich ihn los bin.« Sie verabschiedete sich, warf sich ein Tuch um die Schultern, schlüpfte in ihre Pantoffeln und wagte sich in den Flur hinaus. Vor dem Bleiglasfenster in der
Tür hielt Mr. Dial mit weit offenem Mund in einer übertriebenen Pantomime des Entzückens etwas in die Höhe, das aussah wie ein in gelbes Zellophan gehüllter Obstkorb. Als er sah, dass sie im Hausmantel war, reagierte er mit einer Gebärde bestürzten Bedauerns (seine Brauen zuckten in der Mitte nach oben und bildeten ein umgekehrtes V); er deutete auf seinen Korb und formte mit überschwänglichen Lippenbewegungen die Worte: Entschuldigung! Nur eine Kleinigkeit! Ich lasse es hier...
Nach kurzer Unschlüssigkeit rief Edie in verändertem, fröhlichem Ton: »Warten Sie! Ich komme sofort!« Kaum hatte sie sich abgewandt, wurde ihr Lächeln sauer; sie lief in ihr Zimmer, schloss die Tür und pflückte ein Hauskleid aus dem Schrank
Reißverschluss hoch, Rouge auf die Wangen, ein Wölkchen Puder auf die Nase; dann fuhr sie sich mit der Bürste durchs Haar – sie verzog das Gesicht vor Schmerzen, als sie den Arm hob –, warf noch einen kurzen Blick in den Spiegel, öffnete die Zimmertür und ging durch den Flur, um ihn zu begrüßen.
»Was sagt man dazu«, erklärte sie steif, als Mr. Dial ihr den Korb überreichte.
»Ich hab sie hoffentlich nicht gestört.« Mr. Dial drehte traulich den Kopf und schaute sie mit dem anderen Auge an. »Dorothy hat Susie Cartrett beim Einkaufen getroffen, und die hat ihr von dem Unfall erzählt... Ich sage ja seit Jahren«, er legte ihr die Hand auf den Arm, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, »dass an diese Kreuzung eine Ampel gehört. Seit Jahren! Ich hab sofort im Krankenhaus angerufen, aber sie haben mir gesagt, man hätte Sie nicht eingeliefert – Gott sei Dank.« Er legte eine Hand auf die Brust und verdrehte voller Dankbarkeit die Augen gen Himmel.
»Du meine Güte«, sagte Edie besänftigt. »Danke.«
»Hören Sie, das ist die gefährlichste Kreuzung im ganzen County! Ich sag Ihnen, was passieren wird. Es ist eine Schande, aber es muss jemand zu Tode kommen, ehe die Behörde Notiz nimmt. Zu Tode.«
Überrascht stellte Edie fest, dass sie sich von Mr. Dials Benehmen
erweichen ließ. Er war überaus freundlich, zumal er offenbar davon überzeugt war, dass dieser Unfall unter keinen Umständen ihre Schuld gewesen sein konnte. Und als er auf den neuen Cadillac deutete, der am Randstein parkte (»nur eine kleine Höflichkeit... dachte mir, Sie könnten ein paar Tage einen Leihwagen gebrauchen...«), reagierte sie nicht annähernd so feindselig auf
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