Der kleine Freund: Roman (German Edition)
anmutig umherhuschend ihren blättrigen Geschäften nachgingen, stets in der illusorischen Überzeugung, sie seien wohl verborgen im Schutze der Dunkelheit. Geheime Pfade erschienen über Nacht und führten kreuz und quer durch das Haus, markiert durch Papiertaschentücher, Asthma-Inhalatoren, Fläschchen mit Tabletten und Handlotion und Nagellack, Gläser mit schmelzendem Eis, die ineinander verschränkte weiße Ringe auf den Tischplatten hinterließen. Eine tragbare Staffelei stand plötzlich in einer besonders voll gestopften, schmutzigen Ecke in der Küche, und darauf wuchs – nach und nach, Tag für Tag – ein Bild mit wässrig violetten Stiefmütterchen (die Vase, in der sie standen, vollendete sie allerdings nicht über die Bleistiftskizze hinaus). Sogar ihr Haar bekam einen satten, neuen brünetten Ton (»Chocolate Kiss« stand auf der mit klebrig schwarzen Tropfen verschmierten Flasche, die Harriet im Abfallkorb im unteren Bad liegen sah). Ungeachtet der ungebürsteten Teppiche, der klebrigen Fußböden, der sauer riechenden Handtücher im Bad, verschwendete sie eine verwirrende Sorgfalt auf Belanglosigkeiten. Eines Nachmittags sah Harriet, wie sie Stapel von Kram nach links und rechts verschob, damit sie niederknien und die Messingknöpfe an den Türen mit einer besonderen Politur und einem besonderen Tuch blank putzen konnte. An einem anderen Nachmittag verbrachte
sie – hinwegsehend über Krümel, Fettspritzer und verschütteten Zucker auf der Küchentheke, über die schmutzige Tischdecke und den Turm von Tellern, der kipplig aus kaltem, grauen Spülwasser ragte, hinwegsehend vor allem über einen gewissen süßlichen Hauch von Verdorbenem, der von überall und nirgends zugleich zu kommen schien – eine volle Stunde damit, einen alten verchromten Toaster zu polieren, bis er glänzte wie die Stoßstange an einer Limousine, und dann trat sie zurück und betrachtete noch einmal zehn Minuten lang ihr Werk. »Wir kommen doch prima zurecht, nicht wahr?«, sagte sie. »Ida hat die Sachen nie richtig sauber gemacht, oder? Jedenfalls nicht so.« Sie starrte den Toaster an. »Es macht Spaß, nicht? Nur wir drei.«
Es machte keinen Spaß. Aber immerhin, sie gab sich Mühe. Eines Tages gegen Ende August kam sie aus dem Bett, nahm ein Schaumbad, zog sich an und schminkte sich die Lippen. Sie setzte sich in der Küche auf die Trittleiter und blätterte in The James Beard Cook Book, bis sie ein Rezept für »Steak Diane« gefunden hatte, und dann ging sie in den Laden und kaufte alles, was sie dafür brauchte. Als sie wieder zu Hause war, band sie sich eine gerüschte Cocktailschürze (ein Weihnachtsgeschenk, noch nie benutzt) vor ihr Kleid, zündete sich eine Zigarette an, machte sich eine Coke mit Eis und etwas Bourbon und nippte daran, während sie genau nach Rezept kochte. Dann hob sie die Platte hoch über den Kopf, und sie alle zwängten sich im Gänsemarsch ins Esszimmer. Harriet machte Platz auf dem Tisch, und Allison zündete zwei Kerzen an, die lange, schwankende Schatten an die Decke warfen. Es war das beste Abendessen, das Harriet seit langem bekommen hatte, nur die Teller standen drei Tage später noch immer in der Spüle.
Nicht zuletzt unter diesem bis dahin unvorhersehbaren Aspekt war Idas Anwesenheit viel wert gewesen: Sie hatte den Aktivitätsradius ihrer Mutter auf eine Weise beschränkt, die Harriet erst jetzt – zu spät – zu schätzen begann. Wie oft hatte sie sich nach der Gesellschaft ihrer Mutter gesehnt, sich gewünscht, sie wäre aufgestanden und aus ihrem Schlafzimmer
gekommen? Jetzt war dieser Wunsch mit einem Streich in Erfüllung gegangen, und wenn Harriet einsam und angesichts der stets geschlossenen Schlafzimmertür entmutigt gewesen war, so konnte sie jetzt nie sicher sein, wann die Tür sich knarrend öffnen und ihre Mutter herausschweben würde, um wehmütig Harriets Sessel zu umkreisen, als warte sie darauf, dass Harriet das erlösende Wort sprach und das Schweigen beendete und alles zwischen ihnen wieder leicht und behaglich wurde. Harriet hätte ihrer Mutter mit Freuden geholfen, wenn sie auch nur die geringste Ahnung gehabt hätte, was sie denn sagen sollte. Allison konnte ihre Mutter wortlos trösten, allein durch die Ruhe ihrer körperlichen Anwesenheit, aber bei Harriet war es anders, es schien immer, als solle sie irgendetwas sagen oder tun, und sie wusste nicht, was, und unter dem Druck dieses erwartungsvollen Blicks wurde sie vollends sprachlos und beschämt
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