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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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hinweggestrichen war. Der Blumenrankenteppich, das riesig verschlungene Spielbrett aus Harriets Kindertagen, leuchtete hier, leuchtete da unter den gelben Lichtstreifen, die am späten Nachmittag durch die hölzernen Blenden barsten und an den Wänden entlangglitten. Lange Finger, lange, schräge Stränge, die über die gerahmten Fotos hinwegzogen: Libby als Mädchen, dünn und ängstlich, wie sie Edie an der Hand hielt. Das stürmische alte Haus »Drangsal« in Sepiabraun mit seiner gewitterschwülen Atmosphäre von rankenumwucherter Tragödie. Auch dieses Abendlicht würde verblassen und verschwinden, bis nur noch das kühle blaue Halblicht der Straßenlaternen da war, gerade genug, dass man überhaupt noch etwas sah, gleichförmig schimmernd bis zum Morgengrauen. Hutschachteln, säuberlich gefaltete Handschuhe, die in Schubladen schlummerten. Kleider, die Libbys Berührung nie wieder spüren würden, hingen in dunklen Wandschränken. Bald würden sie in Kisten verpackt und zu den Baptistenmissionen in Afrika und China geschickt werden, und, vielleicht schon bald, würde eine zierliche chinesische Dame in einem bemalten Haus unter goldenen Bäumen und fernen Himmeln mit den Missionaren Tee trinken und dabei eines von Libbys rosafarbenen Sonntagsschulkleidern tragen. Wie konnte die Welt sich weiterdrehen, wie sie es tat, wie konnten die Leute ihre Gärten bepflanzen, Karten spielen, in die Sonntagsschule gehen und Kisten mit alten Kleidern an die Mission in China schicken und dabei die ganze Zeit auf eine eingestürzte Brücke zurasen, die im Dunkeln klaffte?
    So brütete Harriet vor sich hin. Sie saß allein auf der Treppe, im Flur oder am Küchentisch, den Kopf auf die Hände gestützt; sie saß auf der Fensterbank in ihrem Schlafzimmer und schaute auf die Straße hinunter. Alte Erinnerungen juckten und brannten: schlechte Laune, Undankbarkeit, Worte, die sie nie mehr zurücknehmen konnte. Immer wieder dachte sie daran, wie sie im Garten schwarze Käfer gefangen und sie oben in eine Kokosnusstorte gesteckt hatte, an der Libby den ganzen Tag gearbeitet hatte. Und wie Libby geweint hatte, wie ein kleines Mädchen, das Gesicht in den Händen vergraben. Libby hatte auch geweint, als Harriet an ihrem achten Geburtstag auf sie wütend geworden war und ihr gesagt hatte, dass sie ihr Geschenk nicht leiden konnte: ein herzförmiges Amulett für ihr Armband. »Ein Spielzeug! Ich wollte ein Spielzeug !« Nachher hatte Harriets Mutter sie beiseite genommen und ihr gesagt, dass das Amulett teuer gewesen sei und viel mehr gekostet habe, als Libby sich leisten könne. Und das Schlimmste: Als sie Libby zum letzten Mal gesehen hatte, zum allerletzten Mal, da hatte Harriet ihre Hand abgeschüttelt und war den Gehweg hinuntergelaufen, ohne sich umzudrehen. Manchmal, im Laufe eines teilnahmslos verbrachten Tages (nebelhafte Stunden auf dem Sofa, dumpfes Blättern in der Encyclopedia Britannica ), überkamen sie solche Gedanken mit derart frischer Wucht, dass Harriet in den Wandschrank kroch und die Tür zumachte und weinte, das Gesicht in den Taftröcken der staubigen alten Partykleider ihrer Mutter vergraben, krank in der Gewissheit, dass das, was sie empfand, nie mehr anders werden würde, sondern nur noch schlimmer.

    In zwei Wochen würde die Schule anfangen. Hely hatte etwas, das »Band Clinic« hieß und bedeutete, dass die Schulband jeden Tag auf den Footballplatz hinauszog und dort in der drückenden Hitze auf- und abmarschierte. Wenn das Footballteam zum Training herauskam, zogen die Musiker im Gänsemarsch in die blechgedeckte Baracke, in der sich die Turnhalle befand, und dort saßen sie auf Klappstühlen und übten wie in
einem Workshop mit ihren Instrumenten. Nachher zündete der Leiter der Schulkapelle ein Feuer an und briet Hotdogs, oder er organisierte ein Softballspiel oder eine improvisierte »Jamsession« mit den größeren Kids. An manchen Abenden kam Hely früh nach Hause, aber dann, behauptete er, musste er nach dem Abendessen noch Posaune üben.
    In gewisser Hinsicht war Harriet froh, dass er nicht da war. Ihre Trauer, zu groß, um sie zu verbergen, war ihr peinlich, und der katastrophale Zustand des Hauses ebenfalls. Nach Idas Fortgang war Harriets Mutter auf eine Weise aktiver geworden, die an bestimmte Nachttiere im Zoo von Memphis erinnerte: an zierliche kleine, telleräugige Beuteltiere, die – getäuscht durch die ultravioletten Lampen, die ihre Glaskäfige erleuchteten – fraßen und sich putzten und

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