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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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und manchmal auch – wenn er zu verzweifelt wurde oder zu lange dauerte – frustriert und wütend. Dann richtete sie mutwillig den eigenen Blick starr auf ihre Hände oder den Fußboden oder die Wand, um dem Flehen in den Augen ihrer Mutter zu entgehen.
    Harriets Mutter sprach nicht oft von Libby – sie brachte den Namen kaum über die Lippen, ohne in Tränen auszubrechen – , aber ihre Gedanken drehten sich meistens um sie, und die Richtung dieser Gedanken war so offenkundig, als habe sie sie laut ausgesprochen. Libby war überall. Gespräche handelten von ihr, ohne dass ihr Name je erwähnt wurde. Orangen? Jeder erinnerte sich an die Orangenscheiben, die Libby gern im Weihnachtspunsch schwimmen ließ, an den Orangenkuchen (ein jammervolles Dessert aus einem Kochbuch aus den Rationierungszeiten des Zweiten Weltkriegs), den Libby manchmal buk. Birnen? Auch Birnen waren reich an Assoziationen: Libbys eingemachte Ingwerbirnen, das Lied von dem kleinen Birnbaum, das Libby manchmal sang, das Stillleben mit den Birnen, das Libby um die Jahrhundertwende am State College für Frauen gemalt hatte. Und irgendwie war es möglich – indem man über ganz andere Themen sprach –, stundenlang von Libby zu sprechen, ohne ihren Namen zu nennen. Unausgesprochene
Verweise auf Libby spukten in jeder Unterhaltung: Jedes Land und jede Farbe, jedes Gemüse und jeder Baum, jeder Löffel und Türknopf und Nachtisch, alles war von der Erinnerung an sie durchtränkt und verfärbt – und auch wenn Harriet die Richtigkeit dieser Verehrung nicht in Frage stellte, war ihr dabei manchmal unbehaglich zumute, als habe die Person Libby sich in eine Art ungesundes, allgegenwärtiges Gas verwandelt, das durch Schlüssellöcher und unter Türspalten hereinsickerte.
    Das alles war ein sehr merkwürdiges Redemuster und umso merkwürdiger, weil ihre Mutter auf hundert verschiedene wortlose Arten unmissverständlich klar gemacht hatte, dass die Mädchen Ida nicht erwähnen sollten. Selbst wenn sie indirekt von Ida sprachen, war Charlottes Missvergnügen unübersehbar. Und sie war – das Glas halb zum Mund erhoben – erstarrt, als Harriet (ohne nachzudenken) Ida und Libby in einem Atemzug erwähnt hatte. »Wie kannst du es wagen!«, rief sie, als habe Harriet sich auf illoyale Weise, niederträchtig und unverzeihlich über Libby geäußert. »Schau mich nicht so an!«, giftete sie sie an und ergriff dann die Hand der erschrockenen Allison, ließ sie wieder fallen und flüchtete aus dem Zimmer.
    So war es Harriet zwar untersagt, ihre eigene Trauer mitzuteilen, aber die Trauer ihrer Mutter war ein beständiger Vorwurf, und Harriet fühlte sich auf unbestimmte Weise dafür verantwortlich. Manchmal, besonders nachts, war es fast mit Händen zu greifen und durchdrang wie ein Dunst das ganze Haus. Wie ein dichter Nebelschwaden hing es um den gesenkten Kopf, die hängenden Schultern ihrer Mutter, schwer wie der Whiskeygeruch über ihrem Vater, wenn er getrunken hatte. Harriet schlich sich zur Tür und beobachtete stumm ihre Mutter, die im gelblichen Licht der Lampe am Küchentisch saß, den Kopf auf die Hände gestützt, eine brennende Zigarette zwischen den Fingern.
    Und wenn ihre Mutter sich dann umdrehte und versuchte, zu lächeln oder zu plaudern, ergriff Harriet die Flucht. Die schüchterne, kleinmädchenhafte Art, wie ihre Mutter jetzt auf Zehenspitzen durch das Haus lief, war ihr zuwider – wie sie um
Ecken spähte und in Wandschränke schaute, als wäre Ida ein Tyrann, den sie glücklich losgeworden war. Immer, wenn sie zögernd heranrückte mit ihrem speziellen scheuen, bebenden Lächeln, das bedeutete, dass sie »reden« wollte, spürte Harriet, wie sie zu hartem Eis erstarrte. Stocksteif hielt sie sich, wenn ihre Mutter sich zu ihr aufs Sofa setzte, unbeholfen zu ihr herüberlangte und ihr die Hand tätschelte.
    »Du hast noch dein ganzes Leben vor dir.« Ihre Stimme war zu laut, und sie klang wie eine Schauspielerin.
    Harriet schwieg und starrte mürrisch auf die Encyclopedia Britannica, die aufgeschlagen auf ihrem Schoß lag: ein Artikel über die Capy, eine Familie von südamerikanischen Nagetieren, zu denen auch Meerschweinchen gehörten.
    »Die Sache ist nur«, ihre Mutter lachte, ein ersticktes, dramatisches kleines Lachen, »ich hoffe, dass du niemals solchen Schmerz erleben musst, wie ich ihn erlitten habe.«
    Harriet studierte ein Schwarzweißfoto des Capybara, des größten Mitglieds der Capy-Familie. Es war das größte

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