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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Nagetier der Welt.
    »Du bist noch jung, Schatz. Ich habe mein Bestes getan, um dich zu beschützen. Ich will nur nicht, dass du Fehler begehst, wie ich sie begangen habe.«
    Sie wartete. Sie saß viel zu nah. Harriet fühlte sich unbehaglich, aber sie hielt still und schaute nicht auf; sie war entschlossen, ihrer Mutter nicht die kleinste Angriffsfläche zu bieten. Alles, was ihre Mutter wollte, war eine Demonstration von Interesse (kein echtes Interesse, nur eine Schau), und Harriet wusste genau, was ihr gefallen würde: wenn sie die Enzyklopädie viel sagend beiseite legte, die Hände im Schoß faltete und ein mitfühlendes Stirnrunzeln aufsetzte, während ihre Mutter redete. Arme Mutter . Das war genug, das würde reichen.
    Sicher, es war nicht viel. Aber es war so unfair, dass Harriet zitterte. Hörte ihre Mutter denn zu, wenn sie reden wollte? Und in der Stille, während sie starr auf die Enzyklopädie schaute (wie schwer es war, standhaft zu bleiben und nicht zu antworten!), dachte sie daran, wie sie tränenblind wegen Ida
ins Schlafzimmer ihrer Mutter gestolpert war, und wie ihre Mutter schlaff und einer Königin gleich eine Fingerspitze erhoben hatte, eine Fingerspitze , einfach so...
    Plötzlich wurde ihr bewusst, dass ihre Mutter aufgestanden war und auf sie herabblickte. Ihr Lächeln war schmal und widerhakenbewehrt wie ein Angelhaken. »Bitte lass dich von mir nicht stören, wenn du liest«, sagte sie.
    Sofort war Harriet von Reue überwältigt. »Mutter, was?« Sie schob die Enzyklopädie zur Seite.
    »Schon gut.« Ihre Mutter schaute weg und zog die Schärpe ihres Bademantels straff.
    »Mutter?«, rief Harriet ihr durch den Gang nach, als die Schlafzimmertür sich – ein bisschen allzu sittsam – klickend schloss. »Mutter, es tut mir Leid...«
    Warum war sie so voller Hass? Warum konnte sie sich nicht benehmen, wie es anderen Leuten gefiel? Harriet saß auf dem Sofa und machte sich Vorwürfe, und die scharfen, unangenehmen Gedanken drehten sich noch immer in ihrem Kopf, als sie sich längst aufgerafft und ins Bett geschleppt hatte. Ihre Beklemmungen und Schuldgefühle beschränkten sich nicht auf ihre Mutter – nicht einmal auf ihre unmittelbare Situation –, sondern sie waren weithin kreuz und quer verzweigt, und am qualvollsten waren die, die sich um Ida drehten. Wenn Ida nun einen Schlaganfall erlitt? Oder von einem Auto überfahren wurde? So etwas kam vor, und das wusste Harriet inzwischen nur allzu gut: Menschen starben, einfach so, fielen um und waren tot. Würde Idas Tochter sie benachrichtigen? Oder würde sie – was eher wahrscheinlich war – annehmen, dass zu Hause bei Harriet sich dafür niemand interessierte?
    Unter einer kratzigen Häkeldecke warf und wälzte sich Harriet hin und her und schrie lauter Vorwürfe und Befehle im Schlaf. Hin und wieder zuckte Augustwetterleuchten bläulich durch das Zimmer. Sie würde nie vergessen, wie ihre Mutter Ida behandelt hatte: Nie würde sie es vergessen, nie verzeihen, nie. Aber so zornig sie auch war, sie konnte ihr Herz doch nicht vollständig vor dem würgenden Leid ihrer Mutter verhärten.
    Und die Qual war am größten, wenn ihre Mutter versuchte, so zu tun, als wäre es nicht da. Sie kam im Pyjama die Treppe heruntergeschlendert, warf sich vor ihren schweigenden Töchtern auf das Sofa wie ein alberner Babysitter und schlug vor, irgendetwas »Lustiges« zu tun, als wären sie drei dicke Freundinnen, die hier zusammenhockten. Ihr Gesicht war gerötet, ihre Augen glänzten, aber unter der Fröhlichkeit spürte man panische, jammervolle Anspannung, und Harriet hätte am liebsten geweint. Sie wollte Karten spielen. Sie wollte Toffee machen – Toffee! Sie wollte fernsehen. Sie wollte mit ihnen in den Country Club auf ein Steak – was unmöglich war, das Restaurant im Country Club war montags gar nicht geöffnet, was dachte sie sich denn nur? Und sie kam dauernd mit entsetzlichen Fragen: »Möchtest du einen BH?«, fragte sie Harriet und: »Möchtest du eine Freundin einladen?« und »Möchtest du nach Nashville fahren und deinen Vater besuchen?«
    »Ich finde, du solltest eine Party geben«, sagte sie zu Harriet.
    »Eine Party?«, fragte Harriet wachsam.
    »Ach, du weißt schon, eine kleine Coca-Cola- oder Ice-Cream-Party für die Mädchen aus deiner Klasse.«
    Harriet brachte vor Verblüffung kein Wort heraus.
    »Du musst... unter Leute. Lade sie ein. Mädchen in deinem Alter.«
    »Warum?«
    Harriets Mutter wedelte wegwerfend mit

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