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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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der Hand. »Bald kommst du auf die High School«, sagte sie. »Nicht mehr lange, und es wird Zeit für dich, an den Debütantinnenball zu denken. Und – du weißt schon – an Cheerleadertruppe und Mannequinclub.«
    Mannequinclub?, dachte Harriet erstaunt.
    »Die beste Zeit deines Lebens liegt noch vor dir, Harriet. Ich glaube, die High School wird wirklich deine Zeit sein, Harriet.«
    Harriet hatte keine Ahnung, was sie darauf sagen sollte.
    »Es ist wegen deiner Kleider, nicht wahr, Schätzchen?« Ihre Mutter schaute sie flehend an. »Willst du deshalb deine kleinen Freundinnen nicht einladen?«
    »Nein!«
    »Wir fahren zu Youngland nach Memphis. Kaufen dir ein paar hübsche Kleider. Dein Vater soll dafür bezahlen.«
    Das dauernde Auf und Ab ihrer Mutter begann auch an Allisons Nerven zu zerren – zumindest sah es so aus, denn sie fing an, ohne weitere Erklärungen nachmittags und abends zu verschwinden. Das Telefon klingelte öfter. Zweimal in einer Woche hatte Harriet abgenommen, und ein Mädchen, das sich als »Trudy« vorstellte, hatte Allison sprechen wollen. Wer »Trudy« war, fragte Harriet nicht, und es war ihr auch gleichgültig, aber sie beobachtete doch durch das Fenster, wie Trudy (eine schattenhafte Gestalt in einem braunen Chrysler) vor dem Haus hielt, um Allison, die barfuß am Randstein wartete, einsteigen zu lassen.
    Zu anderen Gelegenheiten kam Pemberton mit seinem babyblauen Cadillac, um sie abzuholen, und sie fuhren weg, ohne Hallo zu sagen oder Harriet zum Mitkommen einzuladen. Harriet saß auf der Fensterbank oben in ihrem dunklen Zimmer, wenn sie die Straße hinuntergefahren waren, und starrte hinaus in den düsteren Himmel über den Bahngleisen. In der Ferne sah sie die Lichter des Baseballfeldes und die Lichter von Jumbo’s Drive-in. Wo fuhren sie hin, Pemberton und Allison, wenn sie im Dunkeln wegfuhren, und was hatten sie einander zu sagen? Die Straße glänzte noch von dem Gewitter, das am Nachmittag niedergegangen war; darüber schien der Mond durch ein zerfetztes Loch in den Gewitterwolken, sodass die wallenden Ränder von einem fahlen, grandiosen Licht überflutet wurden. Dahinter – man sah es durch den Riss im Himmel – war Klarheit: kalte Sterne, endlose Fernen. Es war wie der Blick in einen klaren Teich, der flach zu sein schien, nur ein paar Handbreit tief, aber warf man eine Münze in dieses gläserne Wasser, würde sie fallen und fallen, immer tiefer in endlosen Spiralen, ohne je auf den Grund zu gelangen.

    »Wie ist Idas Adresse?«, fragte Harriet eines Morgens Allison. »Ich will ihr schreiben und ihr von Libby erzählen.«
    Im Haus war es heiß und still; schmutzige Wäsche lagerte in dicken grauen Girlanden auf der Waschmaschine. Allison blickte ausdruckslos von ihrer Cornflakesschale auf.
    »Nein«, sagte Harriet nach einer ganzen Weile ungläubig.
    Allison schaute weg. Sie hatte kürzlich angefangen, dunkles Augen-Make-up zu benutzen, und das verlieh ihrem Gesicht einen ausweichenden, abweisenden Ausdruck.
    »Sag nicht, dass du sie nicht hast! Was ist los mit dir?«
    »Sie hat sie mir nicht gegeben.«
    »Hast du nicht danach gefragt ?«
    Schweigen.
    »Hast du, oder hast du nicht? Was ist los mit dir?«
    »Sie weiß, wo wir wohnen«, sagte Allison, »wenn sie uns schreiben möchte.«
    »Schatz?« Die Stimme ihrer Mutter von nebenan: hilfsbereit, aufreizend. »Suchst du etwas?«
    Nach einer langen Pause aß Allison mit gesenktem Blick weiter. Das Knirschen der Cornflakes war ekelhaft laut, wie das verstärkte Knirschen von irgendeinem Laub fressenden Insekt in einem Naturfilm. Harriet schob ihren Stuhl zurück und ließ den Blick in sinnloser Panik durch die Küche wandern: Welche Stadt, hatte Ida gesagt, welche Stadt genau, und wie hieß ihre Tochter mit Familiennamen? Und was würde das helfen, selbst wenn sie es wüsste? In Alexandria hatte Ida kein Telefon gehabt. Um Ida zu erreichen, musste Edie in den Wagen steigen und zu ihrem Haus fahren – kein richtiges Haus, nur eine windschiefe braune Hütte in einem Hof mit gestampftem Lehmboden, kein Gras, kein Gehweg, nur Erde. Rauch, der oben aus einem rostigen kleinen Ofenrohr wölkte, als Edie an einem Winterabend mit Harriet dort angehalten hatte, um Ida zu Weihnachten Früchtekuchen und Mandarinen zu bringen. Bei der Erinnerung daran, wie Ida in der Tür erschienen war – überrascht hatte sie im Scheinwerferlicht des Wagens gestanden und sich die Hände an einer schmutzigen Schürze abgewischt –,

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