Der kleine Freund: Roman (German Edition)
ihren armen kleinen Tisch gesetzt und geweint und geweint.«
»Tatty, ich...« Harriet weinte selbst.
»Schau, Schatz, es ist lieb von dir, dass du an Tatty denkst, aber ich komme schneller voran, wenn ich allein bin. Mein armer Engel.« Jetzt weinte Tat auch wieder. »Wir unternehmen irgendetwas Schönes, wenn ich fertig bin, ja?«
Sogar Edie hatte sich verändert. Sie war dünner geworden seit Libbys Tod; ihre Wangen waren eingefallen, und sie erschien irgendwie kleiner. Harriet hatte sie seit der Beerdigung kaum gesehen. Fast jeden Tag fuhr sie mit ihrem neuen Wagen in die Stadt und traf sich mit Bankern oder Anwälten oder Steuerberatern. Libbys Hinterlassenschaft war ein einziger Kuddelmuddel, hauptsächlich wegen Richter Cleves Bankrott und seiner wirren Versuche gegen Ende, aufzuteilen und zu verbergen, was von seinem Vermögen noch übrig war. Diese Verwirrung fand ihren Widerhall in dem kleinen, verknoteten Erbe, das er Libby hinterlassen hatte. Und um alles noch schlimmer zu machen, hatte der Mann, mit dessen Wagen Edie zusammengestoßen war, sie verklagt und »Depressionen und seelische Qualen« geltend gemacht. Eine Einigung lehnte er ab; es sah so aus, als würde es einen Prozess geben. Edie zeigte sich wortkarg und stoisch, aber es war klar, dass sie Kummer hatte.
»Na ja, es war deine Schuld, Liebe«, sagte Adelaide.
Seit dem Unfall habe sie Kopfschmerzen, sagte Adelaide. Sie sei außerstande, »mit Kisten herumzuhantieren«. Sie sei nicht sie selbst. Nachmittags, nach ihrem Nickerchen (»Nickerchen!« , sagte Tat, als machte sie nicht selbst gern ein Nickerchen), spazierte sie hinunter zu Libbys Haus, bearbeitete Teppiche und Polstermöbel mit dem Staubsauger (was überflüssig war) und ordnete die Kisten, die Tatty bereits gepackt hatte, neu. Aber hauptsächlich zerbrach sie sich laut den Kopf
über Libbys Vermächtnis, und sie provozierte Tatty und Edie gleichermaßen mit ihrem freundlich, aber doch durchsichtig vorgetragenen Verdacht, Edie und die Anwälte wollten sie, Adelaide, um ihren – wie sie sagte – »Anteil« betrügen. Jeden Abend rief sie Edie an, um sie detailliert nach allem auszufragen, was sich an diesem Tag in der Anwaltskanzlei zugetragen hatte (die Anwälte seien zu teuer, klagte sie, und sie befürchte, dass ihr »Anteil« von den Gebühren »aufgefressen« werde), und außerdem übermittelte sie Mr. Sumners Ratschläge zu finanziellen Dingen.
»Adelaide«, rief Edie zum fünften oder sechsten Mal, »ich wünschte, du würdest diesem alten Mann nicht alle unsere Angelegenheiten auf die Nase binden!«
»Warum nicht? Er ist ein Freund der Familie! «
»Mein Freund ist er nicht!«
Und mit mörderischer Fröhlichkeit erwiderte Adelaide: »Ich habe gern das Gefühl, dass es jemanden gibt, dem meine Interessen am Herzen liegen.«
»Und vermutlich findest du, dass es bei mir nicht so ist.«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Doch, das hast du gesagt.«
Das war nichts Neues. Adelaide und Edie hatten sich schon als Kinder nicht vertragen, wenngleich die Atmosphäre zwischen ihnen noch nie so unverhohlen giftig gewesen war. Wenn Libby noch gelebt hätte, hätte sie Frieden zwischen den beiden gestiftet, lange bevor das Ganze eskaliert wäre; sie hätte Adelaide um Geduld und Zurückhaltung angefleht und Edie mit all den üblichen Argumenten beschworen, nachsichtig zu sein (»Sie ist doch das Baby... hatte nie eine Mutter... Papa hat Addie so sehr verwöhnt...«).
Aber Libby war tot. Und ohne ihre Vermittlung wurde die Kluft zwischen Edie und Adelaide mit jedem Tag eisiger und tiefer, und es kam so weit, dass Harriet (die schließlich Edies Enkelin war) in Adelaides Anwesenheit ein unbehagliches Frösteln verspürte. Harriet empfand das alles umso unfairer, weil sie früher, wenn Addie und Edie sich gestritten hatten, meistens Addies Partei ergriffen hatte. Edie konnte eine
Tyrannin sein, das wusste Harriet nur allzu gut. Aber jetzt begann sie, Edie zu verstehen und zu begreifen, was Edie mit dem Wort »kleinlich« meinte.
Mr. Sumner war wieder zu Hause in South Carolina, oder wo immer er wohnen mochte, aber er und Adelaide korrespondierten eifrig miteinander, und Adelaide vibrierte vor Wichtigkeit. »Camellia Street «, hatte sie gesagt, als sie Harriet den Absender auf einem seiner Briefe zeigte. »Ist das nicht ein hübscher Name? Die Straßen hier haben solche Namen nicht. Wie gern würde ich in einer Straße mit einem so eleganten Namen wohnen.«
Sie hielt den
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