Der kleine Freund: Roman (German Edition)
schnürte ihr eine jähe, scharfe Trauer die Kehle zu. Ida hatte sie nicht ins Haus gelassen, aber der kurze Blick, den sie durch die offene Tür werfen konnte,
erfüllte Harriet mit Verwirrung und Kummer: alte Kaffeebüchsen, ein Öltuch auf dem Tisch, der verschlissene alte, nach Rauch riechende Pullover – ein Männerpullover –, den Ida im Winter trug und der jetzt an einem Haken hing.
Harriet spreizte die Finger der linken Hand und untersuchte verstohlen den Schnitt im Fleisch des Handballens, den sie sich am Tag nach Libbys Beerdigung mit einem Schweizer Armeemesser zugefügt hatte. In der erstickenden Trübsal des stillen Hauses hatte die Wunde sie vor Überraschung laut aufschreien lassen. Das Messer fiel klappernd auf den Boden im Bad. Neue Tränen schossen ihr in die Augen, die vom Weinen längst heiß und wund waren. Harriet umklammerte die Hand und presste die Lippen zusammen, als Blutstropfen wie schwarze Münzen auf die überschatteten Fliesen fielen; hin und her war ihr Blick geirrt, hinauf in die Ecken der Decke, als erwarte sie Hilfe von dort oben. Der Schmerz war eine seltsame Erleichterung, eisig und erfrischend, und auf seine raue Art beruhigte er sie und half ihr, ihre Gedanken zu konzentrieren. Wenn es nicht mehr so wehtut , sagte sie sich, wenn es angefangen hat zu heilen , dann werde ich auch nicht mehr so traurig wegen Libby sein .
Und die Schnittwunde war besser geworden. Sie tat nicht mehr so weh, außer wenn sie auf eine bestimmte Weise die Faust ballte. Ein weinroter Striemen aus Narbengewebe war in der kleinen Kerbe emporgewuchert. Es sah interessant aus, wie ein kleiner Klecks von rosafarbenem Leim, und es erinnerte sie auf angenehme Weise an Lawrence von Arabien, der sich mit Zigaretten verbrannt hatte. Offenbar war so etwas aufbauend für einen soldatischen Charakter. »Der Trick«, hatte er im Film gesagt, »besteht darin, dass man gegen den Schmerz nichts hat.« Im gewaltigen und kunstreichen System des Leidens, das begriff Harriet jetzt allmählich, war dies ein Trick, den zu erlernen lohnte.
So verging der August. Bei Libbys Beerdigung hatte der Prediger aus den Psalmen vorgelesen. »Ich wache und klage wie ein
einsamer Vogel auf dem Dache.« Die Zeit heilt alle Wunden, hatte er gesagt. Aber wann?
Harriet dachte an Hely, wie er in der gleißenden Sonne auf dem Footballfeld Posaune spielte, und auch das erinnerte sie an die Psalmen. »Lobet ihn mit Posaunen, lobet ihn mit Psalter und Harfen!« Helys Empfindungen gingen nicht sehr tief, denn er lebte im sonnigen Flachwasser, wo es immer warm und hell war. Er hatte Dutzende von Haushälterinnen kommen und gehen sehen. Auch ihre Trauer um Libby verstand er nicht. Hely konnte alte Leute nicht leiden; er hatte Angst vor ihnen, und er mochte nicht mal seine eigenen Großeltern, die in einer anderen Stadt wohnten.
Aber Harriet vermisste ihre Großmutter und ihre Großtanten, und diese waren zu beschäftigt, um sich viel um sie zu kümmern. Tat packte Libbys Sachen ein: Sie faltete die Bettwäsche, polierte das Silber, rollte die Teppiche auf und kletterte auf die Leiter, um die Vorhänge abzunehmen, und sie überlegte, was man mit den Sachen in Libbys Schränken und Zedernholztruhen und Kammern anfangen sollte. »Liebchen, du bist wirklich ein Engel, dass du mir das anbietest«, sagte sie, als Harriet sie anrief und ihr helfen wollte. Aber obwohl Harriet sich hinübergewagt hatte, hatte sie es nicht über sich gebracht, den Weg zum Haus hinaufzugehen, so erschrocken war sie über die drastisch veränderte Atmosphäre, die Libbys Haus umgab: das Unkraut auf dem Blumenbeet, der struppige Rasen, die tragische Note der Vernachlässigung. An den vorderen Fenstern fehlten die Vorhänge, und ihre Abwesenheit wirkte schockierend, und drinnen, über dem Kaminsims im Wohnzimmer, war nur ein großer blinder Fleck, wo der Spiegel gehangen hatte.
Harriet blieb entsetzt auf dem Gehweg stehen, dann wandte sie sich ab und rannte wieder nach Hause. Am Abend rief sie beschämt bei Tat an, um sich zu entschuldigen.
»Ja«, sagte Tat, und ihre Stimme klang nicht ganz so freundlich, wie Harriet es gern gehabt hätte, »ich habe mich schon gefragt, was passiert ist.«
»Ich... ich...«
»Liebling, ich bin müde«, sagte Tat, und sie klang wirklich erschöpft. »Kann ich irgendetwas für dich tun?«
»Das Haus sieht verändert aus.«
»Ja, das stimmt. Es ist nicht leicht, sich dort aufzuhalten. Gestern hab ich mich in der Küche voller Kisten an
Weitere Kostenlose Bücher