Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Umschlag auf Armlänge vor sich und betrachtete ihn zärtlich über die Brille hinweg, die weit vorn auf ihrer Nase saß. »Er hat auch eine hübsche Handschrift für einen Mann, nicht wahr?«, sagte sie. »Säuberlich, so würde ich’s nennen, oder? Oh, Daddy hielt große Stücke auf Mr. Sumner.«
Harriet sagte nichts dazu. Edie zufolge hatte der Richter Mr. Sumner für einen »losen Vogel« gehalten, was immer das bedeuten mochte. Und Tatty, das Zünglein an der Waage in dieser Meinungsfrage, wollte sich überhaupt nicht über Mr. Sumner äußern; lediglich ihr Verhalten ließ ahnen, dass sie nichts Freundliches über ihn zu sagen hatte.
»Ich bin überzeugt, dass ihr euch über vieles unterhalten könntet, du und Mr. Sumner«, sagte Adelaide. Sie hatte die Karte aus dem Umschlag gezogen und betrachtete sie von vorn und von hinten. »Er ist ja sehr kosmopolitisch. In Ägypten hat er gelebt, wusstest du das?«
Während sie sprach, schaute sie das Bild vorn auf der Karte an, eine Ansicht von Old Charleston; auf der Rückseite entzifferte Harriet in Mr. Sumners ausdrucksvollem, altmodischem Schreibstil die Worte bedeuten mir mehr und teure Dame .
»Ich dachte, dafür interessierst du dich, Harriet.« Adelaide hielt die Karte nochmals mit ausgestrecktem Arm vor sich und betrachtete sie mit schräg gelegtem Kopf. »All die alten Mumien und Katzen und so weiter.«
»Wirst du dich mit Mr. Sumner verloben?«, platzte Harriet heraus.
Adelaide tat unbeteiligt und betastete einen ihrer Ohrringe. »Hat deine Großmutter dir aufgetragen, mich das zu fragen?«
Hält sie mich für schwachsinnig? »Nein, Ma’am.«
»Ich hoffe«, sagte Adelaide mit frostigem Lachen, »ich hoffe, dass ich dir noch nicht gar so alt vorkomme...«, und als sie sich erhob, um Harriet zur Tür zu bringen, warf sie einen Blick auf ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe, der Harriet ganz mutlos machte.
Tagsüber war es sehr laut. Schwere Maschinen – Bulldozer, Motorsägen – dröhnten drei Straßen weiter. Die Baptisten fällten die Bäume und asphaltierten das Gelände rings um die Kirche, weil sie neue Parkplätze brauchten, wie sie sagten.
Die Bücherei war wegen Renovierungsarbeiten geschlossen. Der Kindersaal wurde leuchtend gelb angestrichen, in einem glatten, glänzenden, emailleartigen Gelb, das aussah wie der Lack an einem Taxi. Es war grässlich. Harriet hatte die Gelehrsamkeit ausstrahlende Holztäfelung geliebt, die dort gewesen war, solange sie zurückdenken konnte: Wie konnten sie dieses schöne dunkle, alte Holz anstreichen? Und der sommerliche Lesewettbewerb war vorbei, und Harriet hatte ihn nicht gewonnen.
Es gab niemanden, mit dem sie hätte reden können, sie hatte nichts zu tun, und sie konnte nirgends hingehen außer zum Schwimmbad. Jeden Tag um eins klemmte sie sich ihr Handtuch unter den Arm und zog los. Der August ging dem Ende entgegen; Football- und Cheerleader-Training hatten schon begonnen, und sogar der Kindergarten hatte wieder angefangen. Abgesehen von den Rentnern draußen auf dem Golfplatz und ein paar jungen Hausfrauen, die in Liegestühlen lagen und sich von der Sonne braten ließen, war der Country Club verlassen. Die Luft war die meiste Zeit über heiß und still wie Glas. Ab und zu verschwand die Sonne hinter einer Wolke, und dann strich ein heißer Windstoß über den Pool und kräuselte die Wasseroberfläche und ließ die Markise am Getränkestand knattern. Harriet genoss es, unter Wasser gegen etwas Schweres
kämpfen und treten zu können, genoss die weißen, frankensteinschen Elektrizitätsblitze, die wie von einem großen Generator im Bogen gegen die Wände des Beckes zuckten. Wenn sie dort schwebte – von strahlenden Ketten und Pailletten umfangen, drei Meter hoch über der bauchigen Wölbung des tiefen Endes –, vergaß sie sich manchmal minutenlang, verlor sich in hallender Stille, in Leitern aus blauem Licht.
Lange, traumhafte Momente verbrachte sie bäuchlings treibend wie eine Tote und starrte nach unten auf ihren eigenen Schatten. Houdini war bei seinen Unterwassertricks immer ziemlich schnell freigekommen, und während die Polizisten auf ihre Armbanduhren blickten und an ihren Kragen zupften, während sein Assistent nach der Axt brüllte und seine Frau aufschrie und in gespielter Ohnmacht zusammensank, war er meist schon längst aus seinen Fesseln entkommen und trieb ganz gelassen – und unsichtbar – unter der Wasseroberfläche.
So weit zumindest war Harriet im Laufe des
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