Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Feuerwerk, das aus einem offenen Nerv prasselt.
In ihrem Zimmer lag sie im schwindenden Licht auf dem Teppich und starrte das schäbige Schwarzweißfoto an, das sie aus dem Jahrbuch ausgeschnitten hatte. Die lässige, leicht verrutschte Anmutung, die sie am Anfang so schockiert hatte, war längst verglüht, und was sie jetzt sah, wenn sie das Bild anschaute, war kein Junge, ja, nicht einmal mehr eine Person, sondern die unverhohlene Verkörperung des Bösen. Sein Gesicht war jetzt so giftig, dass sie das Foto nur noch mit spitzen Fingern am Rand anfasste. Die Verzweiflung in ihrem Haus war das Werk seiner Hände. Er verdiente den Tod.
Die Schlange auf seine Großmutter zu werfen hatte ihr keine
Erleichterung verschafft. Er war es, den sie wollte. Vor dem Bestattungsinstitut hatte sie einen kurzen Blick auf sein Gesicht geworfen, und in einem war sie jetzt ganz sicher: Er hatte sie erkannt . Ihre Blicke hatten sich getroffen und ineinander verschränkt – und seine blutunterlaufenen Augen hatten bei ihrem Anblick so wild und merkwürdig aufgeblitzt, dass sie noch bei der Erinnerung daran Herzklopfen bekam. Eine unheimliche Klarheit hatte zwischen ihnen geflackert, eine Art Wiedererkennen, und auch wenn Harriet nicht genau wusste, was das zu bedeuten hatte, wurde sie den merkwürdigen Eindruck nicht los, dass sie Danny Ratliffs Gedanken ebenso sehr beunruhigte wie er die ihren.
Mit Abscheu dachte Harriet daran, wie das Leben die Erwachsenen, die sie kannte, niedergedrückt hatte, jeden Einzelnen von ihnen. Irgendetwas strangulierte sie, wenn sie älter wurde, ließ sie an ihren eigenen Kräften zweifeln – war es Faulheit? Sie ließen locker, sie hörten auf zu kämpfen und fanden sich resigniert ab mit dem, was geschah. »So ist das Leben.« Das war es, was sie alle sagten. »So ist das Leben, Harriet – so ist es einfach, du wirst schon sehen.«
Nun: Harriet würde es nicht sehen. Sie war noch jung, und die Ketten an ihren Füßen waren noch nicht zu eng geworden. Jahrelang hatte sie Angst davor gehabt, neun zu werden – Robin war neun gewesen, als er starb –, aber dann war ihr neunter Geburtstag gekommen und gegangen, und jetzt hatte sie vor nichts mehr Angst. Was auch getan werden musste, sie würde es tun. Sie würde jetzt zuschlagen, solange sie es noch konnte, ehe ihr Mut versiegte und die Kraft sie verließ, und dabei würde nichts ihr Kraft geben außer ihre eigene, gigantische Einsamkeit.
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf das unmittelbar vorliegende Problem. Warum fuhr Danny Ratliff zum Güterbahnhof? Viel zu stehlen gab es dort nicht. Die meisten Lagerschuppen waren mit Brettern vernagelt, und an einem, der es nicht war, war Harriet hinaufgeklettert und hatte durch das Fenster geschaut. Bis auf ein paar zerfaserte Baumwollballen, altersschwarze Maschinen und staubige Pestizidtanks, die mit dem
Bauch nach oben in den Ecken lagen, war er leer. Wilde Theorien gingen ihr durch den Kopf: Gefangene, eingesperrt in einem Güterwaggon. Vergrabene Leichen, Jutesäcke mit gestohlenem Geld. Skelette, Mordwaffen, geheime Zusammenkünfte.
Die einzige Möglichkeit, genau herauszufinden, was er trieb, entschied sie, bestand darin, dass sie zum Güterbahnhof ging und sich selbst ein Bild machte.
Sie hatte seit Ewigkeiten nicht mit Hely gesprochen. Weil er der einzige Siebtklässler bei der »Band Clinic« war, war er sich jetzt zu fein, um sich mit Harriet herumzutreiben. Da kümmerte es ihn nicht, dass man ihn nur eingeladen hatte, weil die Bläsersektion knapp an Posaunen war. Als sie das letzte Mal miteinander geredet hatten (am Telefon, und da hatte sie ihn angerufen), hatte er nur von der Kapelle gesprochen, Klatschgeschichten über die großen Kids erzählt, als ob er wirklich mit ihnen bekannt wäre, und von der Trommel-Majorette und den tollen Blechbläsersolisten per Vornamen geredet. In mitteilsamem, aber distanziertem Ton, als wäre sie eine Lehrerin oder eine Freundin seiner Eltern, informierte er sie über die vielen, vielen Details des Halbzeit-Medleys, an dem sie arbeiteten: ein Beatles-Medley, das die Kapelle mit »Yellow Submarine« beschließen würde, und dabei würden sie ein riesiges Unterseeboot (dessen Propeller durch einen wirbelnden Baton dargestellt werden sollte) auf dem Football-Spielfeld bilden. Harriet hörte schweigend zu. Sie schwieg auch zu Helys unbestimmten, aber begeisterten Einschüben darüber, wie »verrückt« die Kids in der High-School-Band seien. »Die
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