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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Seine Augen glitten kalt über sie hinweg und suchten das Gelände ab, und sie leuchteten mit dem bizarren, blinden, marmorartigen Glanz, den Harriet auf alten Fotos von konföderierten Soldaten gesehen hatte: sonnenverbrannte Knaben mit Lichtpunkten in den Augen, die starr ins Herz einer großen Leere schauten.
    Dann wandte er sich ab. Zu ihrem Entsetzen fing er an, die Leiter schnell wieder herunterzuklettern, und immer wieder sah er sich dabei um.
    Er hatte mehr als die Hälfte des Weges zurückgelegt, ehe Harriet zur Besinnung kam. Sie machte kehrt und rannte, so schnell sie konnte, auf dem feuchten, summenden Pfad zurück. Sie ließ das Notizbuch fallen, hastete zurück und hob es auf. Die grüne Schlange lag wie ein großer Angelhaken quer über dem Weg, funkelnd im Halbdunkel. Sie sprang darüber hinweg, schlug mit beiden Händen die Fliegen beiseite, die summend vor ihrem Gesicht aufstiegen, und rannte weiter.
    Sie stürzte auf die Lichtung hinaus, wo der Baumwollschuppen stand: Blechdach, mit Brettern vernagelte Fenster, wie tot. Weit hinter sich hörte sie ein Krachen im Unterholz; in ihrer Panik war sie einen Augenblick lang wie gelähmt, und die Unschlüssigkeit trieb sie zur Verzweiflung. In dem Schuppen, das wusste sie, gab es eine Menge gute Verstecke – aufgestapelte Ballen, leere Waggons –, aber wenn er sie da in die Enge triebe, würde sie nicht mehr hinauskommen.
    Sie hörte ihn in der Ferne rufen. Das Atmen tat weh, und sie presste eine Hand in ihre stechende Seite, als sie hinter den Schuppen rannte und eine Schotterstraße nahm: sehr viel breiter, breit genug für ein Auto, mit großen, kahlen Flecken, marmoriert von Wirbeln aus schwarzem und weißem Sand im roten Lehm und gesprenkelt vom lückenhaften Schatten hoher Platanen. Das Blut pochte in ihren Ohren, und ihre Gedanken klapperten und schepperten in ihrem Kopf herum wie die Münzen in einem Sparschwein, das man schüttelte, und ihre
Beine waren schwer, als renne sie durch die schlammige Melasse eines Alptraums, und sie konnte sie nicht schnell genug bewegen, konnte sie nicht schnell genug bewegen, und sie wusste nicht, ob das Krachen und Knacken von Zweigen (unnatürlich laut, wie Pistolenschüsse) nur der Lärm ihrer eigenen Schritte war, oder ob es Schritte waren, die ihr auf dem Pfad folgten.
    Die Straße führte jetzt steil bergab. Schneller und schneller rannte sie, immer schneller und schneller; sie hatte Angst hinzufallen, wagte aber nicht, ihr Tempo zu verlangsamen, und ihre Füße stampften voran, als gehörten sie gar nicht mehr zu ihr, sondern zu irgendeiner groben Maschine, die sie antrieb, bis die Straße abwärts und jäh wieder aufwärts führte, hinauf auf eine hohe Erdböschung: der Flussdeich.
    Der Deich, der Deich! Ihre Schritte wurden langsamer, immer langsamer, und trugen sie noch halb den steilen Hang hinauf, ehe sie keuchend vor Erschöpfung ins Gras kippte und auf Händen und Knien vollends hinaufkroch.
    Sie hörte das Wasser, bevor sie es sah ... und als sie endlich mit wackligen Knien oben stand, wehte ihr der Wind kühl ins verschwitzte Gesicht, und sie sah das gelbe Wasser, das an der unterspülten Uferböschung wirbelte. Und flussauf- und flussabwärts – Leute. Schwarze und Weiße, Junge und Alte, Leute, die plauderten und Sandwiches aßen und angelten. In der Ferne schnurrten Motorboote. »Na, ich sag dir, welcher mir gefallen hat«, sagte eine hohe Männerstimme klar und deutlich, »der mit dem spanischen Namen. Ich fand, der hat gut gepredigt.«
    »Dr. Mardi? Mardi ist kein spanischer Name.«
    »Na, wie auch immer. Der war jedenfalls der Beste, wenn du mich fragst.«
    Die Luft war frisch und roch nach Schlamm. Schwindlig und zitternd stopfte Harriet das Notizbuch in ihren Rucksack und kletterte die Deichböschung hinunter zu dem Anglerquartett (jetzt redeten sie über Mardi Gras und ob dieses Fest französischen oder spanischen Ursprungs sei) und ging auf schwerelosen Beinen am Ufer entlang, vorbei an zwei warzigen alten
Anglern (Brüdern, wie es aussah, in gürtelbewehrten Bermudashorts, die sie hoch über ihre Humpty-Dumpty-Bäuche gezogen hatten), vorbei an einer sonnenbadenden Lady, die in einem Liegestuhl lag wie eine Seeschildkröte mit leuchtend pinkfarbenem Lippenstift und einem dazu passenden Tuch; vorbei an einer Familie mit einem Transistorradio und einer Kühlbox voller Fische und an allen möglichen schmutzigen Kindern mit zerkratzten Beinen, die kraxelten und kullerten und hin und her

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